MORDMETHODEN
werden.‹
Dreißig Minuten später saß ich an meinem Arbeitstisch. Ich breitete ein großes Blatt Papier aus und legte die Knochen vorsichtig darauf. Das Skelett, darunter auch die langen Knochen, war nicht vollständig. Rippen und Wirbel waren nur in geringer Anzahl vorhanden. Der Schädel war gut erhalten, aber ganz mit Erde und Gras verklebt. Im Schädel selbst befand sich ebenfalls Erde. Als ich begann, ihn behutsam mit einem Pinsel zu säubern, bemerkte ich plötzlich viele kleine Härchen auf dem Papier. Sie waren rotblond und kurz geschnitten.
Als der Schädel gereinigt war, zeigte sich an der linkenSeite des Stirnbeins die Spur eines Schlags mit einer stumpfkantigen Waffe. An der rechten Seite des Hinterkopfs, knapp oberhalb des Warzenfortsatzes des Schläfenbeins, erblickte ich die Schnittspuren zahlreicher Hiebe, die mit einem Werkzeug mit sehr dünner und scharfer Klinge ausgeführt worden sein mussten.
Also gab es keinen Zweifel: Mord. Die Tat war offenkundig mit einem leichten, kleinen Jagdbeil mit scharf geschliffener Klinge begangen worden. Der Schlag auf die Stirn konnte mit dem Beilrücken erfolgt sein. Es war nun meine Aufgabe, Alter und Geschlecht des Opfers so genau wie nur möglich zu bestimmen und dann das Antlitz desselben auf dem Schädel zu modellieren.
Die unvollkommene Knochenausbildung der Schädelbasis, die völlig freien Nähte zwischen den Knochen des Schädeldachs, der schwache Grad der Abnutzung der Zähne und das Fehlen der letzten Backenzähne ließen vermuten, dass es sich bei dem Ermordeten um einen Menschen von höchstens 12 oder 13 Jahren handelte.
Bedeutend schwieriger war die Feststellung des Geschlechts, weil der Tote jung und infolgedessen die charakteristischen Geschlechtsmerkmale auf dem Schädel noch sehr schwach ausgeprägt waren. Dennoch deuteten eine etwas stärkere Profilierung des Reliefs der Überaugenpartie und des Hinterkopfs, die recht großen Warzenfortsätze der Schläfenbeine, der relativ massive Unterkiefer wie auch das kräftigere Mikrorelief des gesamten Gesichtsskeletts darauf hin, dass es eher ein Knaben- als ein Mädchenschädel war. Diese Annahme wurde in gewissem Sinne auch durch die verhältnismäßig massive Struktur der Extremitätenknochen [der Arme und Beine; M. B.] unterstrichen.
Somit hatte ich schon etwa zwei Stunden später einigeAnhaltspunkte für das Äußere des Toten gewonnen, über die ich den Untersuchungsrichter sogleich telefonisch unterrichtete. Ich fragte etwa Folgendes: ›Suchen Sie unter den Vermissten einen Knaben von 12 bis 13 Jahren, klein von Wuchs, aber kräftig gebaut, untersetzt, mit länglichem Kopf und ausladendem Hinterhaupt, hellrotem Haar, mit der Maschine kurz geschoren (es muss etwa eine Woche vor der Ermordung geschnitten worden sein)?‹
Der Untersuchungsrichter fragte verwundert: ›Warum ein Knabe, warum rotblond?‹
Darauf ich: ›Für alles, was ich gesagt habe, stehe ich ein. Die Gründe erkläre ich Ihnen später.‹
Ich wollte ihm am Telefon nicht sagen, dass er bei mehr Aufmerksamkeit die Haare selbst hätte finden und sich davon überzeugen können, dass der Tote rotblond und kurz geschoren war.
Die Rekonstruktion des Knabenschädels erforderte eine spezielle Vorarbeit. Glücklicherweise besaß ich schon einiges Material. Unter den gesammelten Röntgenaufnahmen befanden sich mehr als ein Dutzend von Knaben zwischen neun und 13 Jahren. So konnte ich mir ein Schema der Weichteile nach dem Profil bilden.
Erst dann konnte die eigentliche Rekonstruktionsarbeit beginnen. Sie war mühselig, erforderte die ganze Aufmerksamkeit und viel Geschick. Zunächst einmal galt es, den Biss und den Unterkiefer richtig zu stellen, was in diesem Fall nicht ganz leicht war, da viele Zähne nach dem Tod verloren gegangen waren. Dann wurden die wichtigsten Kaumuskeln aus Wachs nachgebildet; sie bestimmen die ganze Gesichtsform. In das Wachs wurden dann die Glasaugen eingesetzt.
Auf der Medianlinie [Mittellinie] entstand das Profil, wobei die Angaben über die Weichteildicken bei Kinderndieses Alters und die individuellen Besonderheiten der Form des Schädelreliefs, der Nasenbeine, des Bisses sowie des Kinnvorsprungs berücksichtigt wurden. So bildete sich nach und nach der Kopf des Knaben heraus. Er war stupsnäsig und pausbäckig, hatte eine steile Stirn, eine dicke Oberlippe und leicht abstehende Ohren.
Tags darauf erschien ich um elf Uhr beim Untersuchungsrichter. Ich fuhr mit ihm zu Leutnant Gudow, dem Chef
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