MORDMETHODEN
hielt. »In meiner Zelle stehen inzwischen vier gefüllte Leitz-Ordner mit Grüßen und Briefen«, schrieb Geyer seiner Gemeinde zu Weihnachten 1997. Sogar Jan Philipp Reemtsma hatte dem Pastor sein Buch Im Keller zukommen lassen. Darin schildert er seine 33-tägige Gefangenschaft in einem elf Quadratmeter kleinen Kellerloch. An eine Fußkette gefesselt hatte der Millionenerbe von März bis April 1996 dort die Ungewissheit und Todesangst einer gut geplanten Entführung durchlitten.
Auch die bekannte Theologin Dorothee Sölle sprach ihrem Freund und Aktionsgefährten Mut zu. »Das Wort Rufmord habe ich eigentlich erst jetzt verstanden«, schrieb sie Geyer in die Untersuchungshaft. »Bleib stark, der ›Grausame‹ hat noch eine andere Seite. Ich bete für dich. Deine Dorothee.«
Die meisten seiner Kollegen waren zu der Zeit aber schon von ihm abgerückt. Bitter schrieb der Pastor seiner Gemeinde deshalb von »diplomatischem Gerede, das vielleicht noch ›brüderlich‹ daherkommt, in Wirklichkeit aber jede Solidarität und brüderliche Nähe vermissen lässt«.
Viele Spuren und ein Kassiber
Obwohl der Pastor also ein anderer Mensch war, als es sich seine Schäfchen gewünscht hätten, und obwohl er gelogen hatte, als es um die Telefonzelle ging, konnten seine kleinen Aussage- und Verhaltensungereimtheiten noch keine Indizienkette bilden, die eine Anklage wegen Tötung seiner Frau sicher gestützt hätte.
Da es aber keinen anderen Verdächtigen gab und da Klaus Geyer für Polizei und Haftrichter insgesamt keine genügend glaubwürdige Person darstellte, blieb er im Visier der Ermittler – und in Untersuchungshaft.
Bei den Vernehmungen und vor Gericht verstrickte sich derBeschuldigte nun ungewollt weiter. Ein Zeuge behauptete beispielsweise, er habe Frau Geyer schon etwa zwei Wochen vor ihrem Verschwinden in der Nähe des Pastoren-Kamps spazieren gehen sehen. Davon wusste Geyer nichts. Er vermutete aber, dass seine Gattin vielleicht mit einem Kollegen dort entlanggeschlendert sei. Es sei jedoch sicher, dass er nicht der besagte Begleiter gewesen sein könne , denn er habe sich »seit Jahren« nicht in der Gegend aufgehalten.
Diese Aussage, so harmlos sie allen Beteiligten auf den ersten Blick erschien, brachte dem Pastor aber den Vorwurf einer weiteren, noch größeren Lüge ein. Denn an einem gelben Gummistiefel des Angeklagten, den die Kriminaltechniker gründlich untersucht hatten, war nicht nur Erde gefunden worden, die aus eben jener Gegend stammte, sondern die Erde war auch frisch. Außerdem enthielt sie eine Ameise, die in einem Bau am Leichenfundort gelebt haben musste (siehe »Karnevalsglitter und andere Spuren«, S. 183ff.).
Warum, so fragten sich die Kriminalisten erneut, sollte der Pastor die Unwahrheit sagen, es sei denn, er hätte etwas zu verbergen? Der Beschuldigte blieb hart: »Das sind nicht meine Stiefel!« Wenn überhaupt, dann hätte ein Fremder oder vielleicht seine Frau die Schuhe getragen; er selbst habe sie nur einmal benutzt, aber nur im eigenen Schlosspark. Warum die Geyers offenbar fremde Stiefel aufbewahrten und warum Frau Geyer oder die Kinder Schuhe benutzt haben sollen, die ihnen sechs bis sieben Nummern zu groß waren, blieb rätselhaft.
Karnevalsglitter und andere Spuren
Ob die Lebensweise eines Verdächtigen nachvollziehbar ist oder nicht oder ob ein Verdächtiger bisher Gutes oder Schlechtes getan hat, darf einen Sachverständigen nicht interessieren. Er kümmert sich nur um die Spuren eines Falles, nicht aber um deren Bedeutung für den Fall. Welche sozialen oder juristischen Folgen seine Untersuchungsergebnisse haben, müssen andere entscheiden.
Wegen dieser zwangsweise eingeschränkten Sicht kann es passieren, dass nicht nur Kläger oder Beklagte mit einem Gutachten unzufrieden sind, sondern auch das Gericht und die Presse. Meist geschieht das, wenn statistische Angaben ins Spiel kommen.
Doch die Wünsche und Erwartungen der Prozessparteien und der Öffentlichkeit müssen dem Gutachter vor Gericht egal sein. Beruflich lebt er in der Welt der Tatsachen und der mathematisch berechenbaren Wahrscheinlichkeiten.
Auch im Fall Geyer kam es zu Situationen, in denen sich viele Beteiligte eine schärfer formulierte Aussage gewünscht hätten. Bei der Beurteilung der Bodenproben am gelben Stiefel ging es beispielsweise um die Wahrscheinlichkeit, mit der sich die Bodenprobe dem Fundort der Leiche zuordnen ließ. Die Erdexperten sagten, dass die Probe am Stiefel erstens mit
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