Mords-Bescherung
ehe sie das Ziel
erreichten. Mehrmals blieb er stehen und wartete, bis sie zu ihm aufschloss.
Ihr Gesicht war mittlerweile knallrot wie eine Tomate. Aber auch an ihm gingen
die Strapazen des Aufstiegs nicht spurlos vorüber. Als sie den Felsvorsprung
endlich erreichten, zitterten seine Knie und brannten seine Waden wie Feuer.
Doch der Ausblick, der sich hier bot, entschädigte für die Anstrengung. Ein
Bündel aus Sonnenstrahlen bahnte sich einen Weg durch einen Spalt in der
Wolkendecke und ließ den Schnee auf dem Gipfel des Arbiskogels wie Diamanten
funkeln. Tief unter ihnen schoss der Schönachbach durch zerklüftete Felsen
hinab ins Tal. Er forderte sie auf, sich auf den Vorsprung zu stellen, um ein
Foto von ihr zu machen. Als sie zögerte, nahm er sie an der Hand und führte sie
an den Rand des Felsens. Er nahm ihr gegenüber Aufstellung und dirigierte sie
ein paar Schritte zurück. Ihm entging nicht, wie sich ihre Augen vor Angst
weiteten. Plötzlich schüttelte sie entschlossen den Kopf und kehrte auf den
Pfad zurück.
»Das kannst du nicht von mir verlangen. Du weißt doch, dass ich
nicht schwindelfrei bin.«
Er überlegte kurz, ob er sie mit Gewalt an den Rand des Felsens
zerren und hinabstoßen sollte. Aber er entschied sich dagegen. Die Gefahr, dass
sie sich in ihrer Panik an ihn klammerte und ihn mit sich in die Tiefe riss,
war viel zu hoch. Er beschloss, sie nicht zu drängen. Irgendwie würde es ihm
schon gelingen, sie an den Rand des Abgrunds zu locken.
»Denk einmal daran, was deine Freundinnen sagen, wenn du ihnen ein
Foto präsentierst, das dich bei einer Wanderung im Hochgebirge zeigt! Ich bin
mir sicher, dass dich alle um diese Aufnahme beneiden und aus dem Staunen nicht
mehr herauskommen. Aber ich habe einen Vorschlag! Mach zuerst ein Foto von mir,
damit du siehst, wie beeindruckend das Panorama überhaupt ist!«
Er drückte ihr die Kamera in die Hand und stellte sich selbst an die
Stelle, die er ihr vorher zugewiesen hatte. »Siehst du, wie einfach das ist? Du
musst lediglich hier stehen bleiben, dann kann gar nichts passieren.« Er
breitete die Arme aus und lächelte sie unschuldig an.
Sie hob die Kamera in die Höhe, ließ sie aber wieder sinken und
schüttelte gespielt vorwurfsvoll den Kopf. »Wie du wieder ausschaust! So kann
man doch kein Foto machen.«
Sie ging zu ihm und bat ihn, kurz die Kamera zu halten, damit sie
seinen Hemdkragen in Ordnung bringen könne. Langsam hob sie die Hände und
versetzte ihm einen Stoß. Das Letzte, was sie von ihm sah, war der erstaunte
Blick in seinen Augen. Mit einem Schrei stürzte er in die Tiefe. Vorsichtig
machte sie einen Schritt auf den Abgrund zu und schaute nach unten. Sein Körper
lag eigenartig verrenkt zwischen den Felsen. Sie warf ihm eine Kusshand zu und
kehrte auf den Pfad zurück. Mit einem Lächeln holte sie ihr Handy aus der
Tasche und wählte eine Nummer.
»Schatz, wir können doch gemeinsam Weihnachten feiern. Spätestens
übermorgen bin ich bei dir.«
»Mein Mann? Keine Sorge, der macht uns keine Schwierigkeiten mehr.
Wir sind gerade wandern, und er hat mir versprochen, bei einer Trennung auf
seine Ansprüche zu verzichten. Ich muss jetzt aufhören. Bis bald. Ja, ich liebe
dich auch.«
Sie beendete das Gespräch und steckte das Mobiltelefon in die Tasche
zurück. Dann sprühte sie ein wenig Parfüm auf ihre Hände und rieb es sich in
die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie zerraufte sich die Haare und
lief zur Almhütte zurück.
Harald Mini
Der Tag, an dem der Weihnachtsmann ermordet wurde …
Der Tag, an dem der Weihnachtsmann ermordet wurde, begann
damit, dass WM , wie der Weihnachtsmann im Himmel
allgemein genannt wurde, in der Kantine beim Frühstück saß.
»Na, WM , nichts zu tun unten in der
alten Heimat?«, fragte ihn der Nikolaus, der sich zu ihm setzte.
»Wie?« Der Weihnachtsmann hörte schon ein wenig schlecht. »Niko, Sie
müssen etwas lauter mit mir sprechen.« Er peckte das Dreieinhalb-Minuten-Ei in
seinem Eierbecher auf.
»Ob es nichts zu tun gibt für Sie auf der Erde?«, wiederholte der
Nikolaus deutlich lauter seine Frage. »Immerhin ist der dritte Adventssamstag,
sollten Sie da nicht auf der Erde Dienst tun? Ich hab ja erst vor Kurzem meine
Schuldigkeit getan und meine üblichen Runden da unten gedreht.«
Der Weihnachtsmann zuckte die Schultern und streute Salz auf sein
Ei. »Glaubt eh keiner mehr an mich.«
»Und dann Ihre dauernde Konkurrenz mit dem Christkind«, sagte der
Nikolaus
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