Mordsberge: Vier Fälle für Kommissar Gabriel (German Edition)
Holz.
Gabriel blieb stehen, wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und sah nachdenklich zu der Hütte hinauf.
Es wäre zwar übertrieben gewesen zu sagen, dass der Kommissar ein Verbrechen riechen konnte. Aber dennoch verspürte er eine seltsame Sinneswahrnehmung irgendwo im Körper, die ihm signalisierte, dass in dem Gebäude etwas Schlimmes passiert war.
Plötzlich kniff Gabriel die Augen noch enger zusammen. Was war denn das?! Gab es hier etwa Gespenster? So etwas wie einen Yeti vielleicht?
Sandra, die ebenfalls etwas bemerkt hatte, war vor Schreck so sehr zusammengezuckt, dass sie auf dem überfrorenen Schnee beinahe ausgerutscht und auf die Nase gefallen wäre.
»Siehst du das auch?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Pssst«, machte Gabriel.
Noch waren sie unbemerkt geblieben, und den Vorteil wollte der Kommissar nicht leichtfertig verspielen. Er hockte sich hin und beobachtete das merkwürdige Wesen, das sich an der Rückseite der Hütte zu schaffen machte. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf. Die seltsame Gestalt schien sich in dem wolkigen Schneegestöber aufzulösen. Ihre weiße Kleidung flatterte um sie herum wie das zottelige Fell eines … ja, eines Yeti eben. Gesicht und Hände waren allerdings so dunkel wie die alten Holzbalken, die den Bau der Hütte stützten, sie waren hinter dem Schleier aus Schneeflocken kaum zu erkennen. Umso deutlicher hingegen war das zu sehen, was das Wesen in ruhigen Bewegungen auf und ab schwang: eine lange, silbern funkelnde Klinge.
Der Kommissar konnte nicht verhehlen, dass ihm plötzlich mulmig zumute wurde. Sandra, die sich inzwischen an ihn herangerobbt hatte und sich an ihn klammerte, fragte in angstvollem Flüsterton: »Was ist das, Chef?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wir sollten lieber wieder verschwinden. Oder wenigstens Verstärkung rufen.«
Gabriel schnaufte leise, hin- und hergerissen zwischen Be sorgnis und Wut. Baumgartner hatte ihm so gut wie nichts über den Fall verraten. Vor allem aber hatte er ihnen klargemacht, dass sie mit keinerlei Unterstützung aus München rechnen durften, also keine weiteren Polizisten, keine Gerichtsmedizin und schon gar kein Sondereinsatzkommando, das ihnen tatkräftig zur Seite stehen könnte.
Sie waren ganz allein auf sich gestellt.
Und es war durchaus möglich, dass sie in eine Falle liefen.
»Komm schon, Wolf. Lass uns abhauen«, drängte Sandra.
Doch zu ihrer Verblüffung richtete sich Gabriel plötzlich auf. Er streckte die Glieder, und ein seltsames Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Das tun wir ganz bestimmt nicht, liebe Sandra. Schließlich sind wir hier, um der Sache auf den Grund zu gehen. Und genau das werden wir auch tun.«
»Und das da?«, fragte Sandra und deutete mit zitterndem Finger auf die unheimliche Schattengestalt.
Gabriel zog sie ebenfalls auf die Beine. »Das da ist nichts weiter als ein Mitbürger mit Migrationshintergrund. Und jetzt mal ehrlich, Sandra, du hast doch keine Angst vor einem schwarzen Mann, oder?«
Mit einiger Verspätung begriff nun auch die junge Kommissaranwärterin, dass das Wesen dort oben keineswegs ein Yeti oder ein Gespenst oder ein Mörder bei der Arbeit war.
Es war nichts anderes als ein Schwarzer mit einer im Wind flatternden Kochschürze, der ein großes Küchenmesser schwang. Er ging einer ganz friedlichen Beschäftigung nach, nämlich Gemüse zu putzen.
Wenige Minuten später zogen Sandra und Gabriel die schwe re Holztür der Hütte auf und betraten den großen Gastraum. Ein durchdringender Geruch nach Holz, eingekochtem Essen und nach – Gabriel rümpfte die Nase – ja, nach Schweißfüßen umfing sie.
Willkommen auf der Alm, dachte der Kommissar und wiederholte gleich noch einmal sein Tagesmantra.
Während Gabriel sich noch den Schnee vom Körper klopfte, deutete Sandra überrascht auf zwei Männer, die ein paar Meter entfernt im Halbdunkel standen und mit versteinerten Mienen zu ihnen herüberstarrten. »Ach, jetzt verstehe ich, warum Baumgartner uns nichts über die Sache verraten wollte. Und warum er keine seiner eigenen Leute raufschicken wollte«, murmelte sie leise.
»Und warum?«, fragte der Kommissar, der immer noch mit seiner Kleidung beschäftigt war.
»Also bitte, Wolf! Das fragst du jetzt nicht wirklich, oder?«
»Doch.«
»Na, dann schau mal genauer hin.«
In diesem Augenblick trat der jüngere der beiden Männer auf sie zu. Sein eben noch so abweisender Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem freundlichen Lächeln. »Sie
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