Mordsfreunde
Sprüche gingen ihr schon nach zwei Minuten auf die Nerven. Der Notarzt hatte mit der Leichenschau begonnen.
»Tod durch Erhängen«, sagte er zu Pia. »Voll ausgeprägte Leichenstarre, großflächige Leichenflecken mit Blutaustritten an den Füßen, Fingerspitzen und Unterschenkeln.«
»Suizid«, kommentierte Behnke, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, und wandte sich an die Streifenpolizisten. »Ihr könnt ihn abhängen.«
»Moment noch«, sagte Pia auf das Risiko hin, von ihrem Kollegen vor allen Anwesenden abgekanzelt zu werden. Sie trat näher an den Leichnam heran, blickte in das im Tod erstarrte, viel zu junge Gesicht. Der Kopf des Jungen war nach vorne gekippt, sein Gesicht blau angelaufen, grün schillernde Schmeißfliegen summten um ihn herum. Sein linker Schuh lag einen Meter entfernt auf der obersten Stufe der kleinen Treppe, die auf die Veranda führte, an der Tür der Hütte lag eine umgekippte leere Bierkiste. War Jonas durch den Streit mit seiner Freundin wirklich so verzweifelt gewesen, dass er sich am Abend seines neunzehnten Geburtstags das Leben genommen hatte, oder steckte noch mehr dahinter?
»Sind Sie fertig mit der Leichenschau, Frau Doktor?«, sagte Behnke sarkastisch. »Darf jetzt auch mal der echte Arzt an die Arbeit gehen?«
Pia verspürte ein beinahe unbezähmbares Verlangen, ihm gegen das Schienbein oder besser noch einen halben Meter höher zu treten, aber sie beherrschte sich.
»Bitte«, sagte sie und trat zurück. Zwei Beamte befreiten den Toten aus der Schlinge und legten ihn nach Anweisung des Arztes auf ein einigermaßen müllfreies Stück Rasen neben der Hütte. Pia hatte in den vergangenen sechzehn Jahren viele Leichen auf dem Seziertisch der Frankfurter Rechtsmedizin gesehen und gelernt, auf kleinste Hinweise zu achten, aufscheinbar unbedeutende Details, die mehr verrieten, als auf den ersten Blick sichtbar war. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie an einem Suizid zweifelte, obwohl alles auf den ersten Blick perfekt zu passen schien.
»Woher kommt das Blut an seinen Lippen?«, fragte sie den Arzt. »Kann er sich auf die Zunge gebissen haben?«
»Nein, das glaube ich nicht«, der Arzt schüttelte den Kopf. »Wegen der Leichenstarre kann ich den Kiefer nicht öffnen. Aber er hat irgendetwas im Mund.«
Er wies auf eine Rötung an der linken Gesichtshälfte des Toten.
»Sehen Sie hier. Das könnte von einem heftigen Schlag stammen. Dadurch, dass wenig später der Tod eingetreten und durch das freie Hängen in der Luft das Blut in die unteren Extremitäten gesackt ist, kam es nicht zu einem Bluterguss.«
»Man kann sich einen Mord auch konstruieren«, bemerkte Behnke mürrisch und blickte auf die Uhr.
»Auf dem T-Shirt sind Blutflecken«, der Arzt ließ sich nicht beirren. »Es ist möglich, dass die von einer anderen Person stammen, weil ich an der Leiche keine Verletzungen feststellen kann, bei denen Blut geflossen ist.«
Pia nickte nachdenklich. Einer der Beamten, die das Grundstück nach Spuren absuchten, machte rufend und winkend auf sich aufmerksam. Pia und Behnke gingen ein Stück die Wiese hinauf. Der Boden war von der Sonne ausgedörrt und steinhart, der gelbliche Rasen so kurz rasiert, dass weder Fuß- noch Reifenspuren zu erkennen waren.
»Da«, der Beamte wies auf den Boden, »ein Handy.«
Pia bückte sich und ergriff das Gehäuse des Mobiltelefons mit ihrer behandschuhten Rechten. Es handelte sich um ein silberfarbenes Modell von Motorola, das vor allen Dingen bei jungen Leuten beliebt war. Der Rückendeckel fehlte,ebenso Akku und SIM-Karte. Das Telefon sah nicht so aus, als ob es schon lange hier liegen würde. Pia bat die Kollegen, nach den anderen Teilen des Telefons zu suchen, und blickte sich nachdenklich um. Neben den Polizeiautos waren einige Spaziergänger stehen geblieben und starrten neugierig zu ihnen hinüber. Pia rief Bodenstein an und berichtete ihm von dem Leichenfund.
»Wir sind uns noch nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Selbstmord war«, bezog sie ihren Kollegen mit in den Kreis der Zweifler ein. »Es gibt ein paar Ungereimtheiten.«
Behnke verdrehte die Augen und ging wieder hinunter zur Hütte.
»Hören Sie auf Ihren Instinkt«, riet Bodenstein. »Brauchen Sie mich?«
»Ich muss den Eltern von Jonas die Nachricht vom Tod ihres Sohnes überbringen«, Pia senkte die Stimme. »Das mache ich nicht gern allein, aber noch weniger gern mit Behnke.«
»Holen Sie mich ab«, erwiderte Bodenstein. »Ich bin zu Hause.«
Pia
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