Mordsfreunde
tatsächlich geweint hatte. Mit zitternden Knien stand sie auf und ging hinüber in die Küche. Seit zwei Wochen hatte sie keine Zigarette angerührt. Jetzt durchsuchte sie alle Jacken, die im Flur an der Garderobe hingen, und fand in der Innentasche einer Winterjacke noch ein altes Päckchen. Der erste Zug hatte die Wirkung eines Joints, sie war ganz benommen, aber ihre Finger hörten auf zu zittern, und der Angstschweiß trocknete auf ihrer Haut. Viele Jahre hatte sie nicht mehr an das gedacht, was im Sommer 1989,bei einem Urlaub in Frankreich, ganz harmlos begonnen und in einer entsetzlichen Katastrophe geendet hatte. Über Monate hinweg war die Angst ihr ständiger Begleiter gewesen. Im Laufe der Jahre hatte sie diese entsetzlichen Erlebnisse verdrängt und irgendwann nicht mehr daran gedacht. Pia duschte ausgiebig, zog frische Unterwäsche an und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. Noch ganz unter dem Eindruck des Alptraums öffnete sie die Haustür und sog die frische Luft tief in die Lungen. Über dem Taunus war der Himmel noch dunkel, aber im Osten zeigte sich ein erster heller Streifen und kündigte einen weiteren heißen Tag an. Pia ging zum Stall hinüber. Sie mochte die Stunde vor der Dämmerung, diese eigenartige unwirkliche Stimmung zwischen Nacht und Tag. Die Vögel stimmten ihr Frühkonzert in den Bäumen hinter dem Haus an, die Pferde wieherten erfreut, als sie Pia erblickten. Nichts war tröstlicher und beruhigender als tägliche Routine, deshalb fütterte Pia die Pferde, auch wenn es eigentlich noch eine Stunde zu früh dafür war. Auch Hühner, Enten und Gänse bekamen ihre Morgenration. Sie überquerte den Hof und wunderte sich, weshalb die Meerschweinchen noch nicht fiepten. Normalerweise warteten die pelzigen Tierchen auf sie und wieselten an das Gitter des ehemaligen Hundezwingers, in dem sie den Sommer verbrachten.
»Na, schlaft ihr noch?« Pia griff nach dem Hebel, mit dem die Tür des Zwingers verschlossen wurde. Aber der Hebel war nach oben gedreht und die Tür, die sie zum Schutz gegen Raubtiere und Katzen mit dünnmaschigem Maschendraht verstärkt hatte, stand offen. Ihr Innerstes verkrampfte sich, und ihr wurde übel, als sie sah, was geschehen war: Ein Marder oder ein Fuchs musste in den Zwinger eingedrungen sein und hatte alle Meerschweinchen getötet. Das war zu viel nach dieser grässlichen Nacht. Pia brach in Tränen aus und sank schluchzend auf die Knie ins feuchte Gras.
Eine Stunde später nippte sie an ihrem Kaffee und versuchte sich zusammenzureißen. Erst das offene Tor und die offene Haustür und jetzt die toten Meerschweinchen. Sie zwang sich, nicht darüber nachzudenken, und starrte stattdessen auf den Bildschirm ihres Computers. Sie klickte noch einmal die E-Mail von Dr. Sander an, danach den Link zu Svenjas Homepage.
»Error 404«, erschien auf ihrem Bildschirm, »die angeforderte Seite wurde nicht gefunden.«
Jemand hatte den Inhalt gelöscht. Und dieser Jemand konnte nicht Jonas gewesen sein, denn der war tot.
»Kai«, sagte Pia zu ihrem Kollegen, »die ganze Webseite von Svenja Sievers wurde gelöscht! Wie geht denn das?«
Ostermann tat, worum sie ihn gebeten hatte.
»Das hat das Mädchen sicherlich selbst gemacht«, erwiderte er ein paar Sekunden später. »Oder der Anbieter.«
»Aber Svenja hat angeblich keinen Zugriff mehr auf ihre Seite«, sagte Pia nachdenklich, »das hat mir ihre Freundin gestern erzählt. Kannst du herausfinden, wer das gemacht hat?«
»Ich versuch's«, Ostermann nickte und machte sich an die Arbeit. Es war erst Viertel nach sieben, aber Pia wollte wissen, ob Sander mit Lukas' Vater gesprochen hatte. Sie wählte Sanders Nummer, Sekunden später hörte sie seine Stimme dicht an ihrem Ohr.
»Ich hätte Sie auch angerufen«, sagte er, »aber ich wusste nicht, ob ich Sie schon so früh stören konnte.«
Plötzlich überkam Pia der Wunsch, diesem Mann, den sie eigentlich kaum kannte, mehr über sich zu erzählen.
»Heute hätten Sie ruhig schon um vier Uhr anrufen können«, erwiderte sie deshalb.
»Wieso?«, fragte Sander aber. »Hatten Sie wieder einen Toten?«
»Nicht einen, sondern fünfzehn«, sagte Pia, »tote Meerschweinchen. Und das zwei Tage, nachdem aus unerklärlichen Gründen mein Hoftor und die Haustür offen standen, als ich nach Hause kam.«
»Vielleicht sollten Sie da draußen nicht so ganz alleine leben«, hielt Sander sich brav in die Richtung, in die Pia ihn lockte.
»Dasselbe haben meine Kollegen schon gesagt«,
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