Mordsfreunde
Laut von sich, eine Mischung aus Schluchzen und Stöhnen, dann setzte er sich auf die Treppenstufe und vergrub sein Gesicht in seinen Armen. Pia bemerkte einen schneeweißen Verband an seiner rechten Hand, der bis über den Ellbogen reichte. Antonia löste sich von ihrem Vater, setzte sich neben Lukas und schlang beide Arme um ihn. Der Junge lehnte sein Gesicht an ihres. Pia sah, dass ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Sander kam die beiden Stufen hinunter in den Wintergarten. Er war verschwitzt, sah erschöpft und gestresst aus.
»Lassen Sie uns in den Garten gehen«, schlug er vor und trat durch die geöffnete Glastür ins Freie. Pia folgte ihm. An der Hausmauer wuchsen Tomaten in großen Töpfen, in den Beeten blühten Hortensien, und die Kletterrosen verströmten einen betäubend süßen Duft.
»Was für ein beschissener Tag«, sagte Sander. »Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Ein Dromedar hat Lukas angegriffen und ihm den ganzen Arm zerfleischt, und das vor den Augen einer Kindergruppe! Er hat noch Glück im Unglück gehabt. Wären nicht der Pfleger und der Zoopädagoge dazugekommen, hätte es böse ausgehen können.«
Pia blickte in den Wintergarten, wo Lukas und Antonia eng umschlungen auf den Treppenstufen saßen und gemeinsam um den toten Freund trauerten. Sander setzte sich auf die niedrige Mauer zwischen Terrasse und Garten.
»Was ist mit Jonas passiert?«, fragte er und sah Pia an.
»Wir haben ihn erhängt aufgefunden«, antwortete sie. »Es muss einen heftigen Kampf gegeben haben, in dessen Verlauf Jonas seinen späteren Mörder gebissen hat. Zwischen seinen Zähnen haben wir menschliches Gewebe gefunden.«
Dr. Sander verzog das Gesicht.
»O Gott«, murmelte er. »Wie hat Svenja reagiert?«
»Sie ist weggelaufen«, erwiderte Pia. »Sie macht auf mich einen verstörten Eindruck.«
»Ja, das Mädchen ist völlig durch den Wind«, bestätigte Sander. »Seitdem sie in den Dunstkreis dieses unseligen Pauly geraten ist, hat sie sich vollkommen verändert. Allmählich mache ich mir ernsthaft Sorgen um die Mädchen.«
»Nicht ganz zu Unrecht«, erwiderte Pia ernst. »Zwei Morde in ihrem engsten Bekanntenkreis, und Svenja war kurz vor oder nach dem Mord an Pauly bei ihm. Leider spricht sie nicht mit mir darüber.«
Sander fuhr sich mit beiden Händen durch sein dunkles, lockiges Haar und stützte dann die Ellbogen auf seine Knie.
»Was soll ich machen?«, sagte er düster, mehr zu sich selbst als zu Pia. »Ich kann Toni nicht den Umgang mit ihren Freunden verbieten, auch wenn ich es am liebsten tun würde. Aber dann würde sie sich heimlich mit ihnen treffen und anfangen, mich zu belügen.«
Während er sprach, wurde Pia bewusst, dass ihre Gedanken mit einem Mal um etwas ganz anderes kreisten als um ihre Ermittlungen. Christoph Sander besaß eine physische Präsenz, die ihr Herz klopfen ließ, und das verunsicherte sie. Es war lange her, dass ein Mann solche Gefühle in ihr ausgelöst hatte, viel zu lange. Plötzlich und ganz unvermittelt wusste sie, weshalb sie Henning keine zweite Chance mehr geben konnte. Sie wollte nichts Aufgewärmtes, nichts Altbekanntes, nein, sie sehnte sich nach einem neuen Anfang, nach aufgeregtem Herzklopfen und weichen Knien, nach Leidenschaft und Abenteuer. Jahrelang hatte sie sich selbst belogen, hatte sich eingeredet, sie sei zufrieden mit der emotionslosen Routine ihres Lebens. Das stimmte nicht, oder nicht mehr.
»... alles in mir sträubt sich dagegen, dass Antonia mitLeuten wie Jonas zu tun hat«, hörte sie Sander sagen und riss sich zusammen.
»Was meinen Sie damit: Leute wie Jonas?«, fragte sie.
»Verwöhnte, egoistische Blagen. Respektlos, gefühllos, nur auf der Suche nach dem ultimativen ›Kick‹.« Sanders Stimme klang sarkastisch. »Ihre Eltern stopfen sie mit materiellen Dingen voll, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.«
»Wie gut haben Sie den Jungen gekannt?«
»Er war öfter mit Svenja hier.«
»Und?«
»Was und?« Er blickte sie an, wachsam und angespannt. Dieser Blick ging Pia durch Mark und Bein.
»Was für einen Eindruck hatten Sie von ihm?«
»Einen, der offensichtlich falsch war. Diese Sache mit der E-Mail und den Bildern im Internet hätte ich ihm nicht zugetraut. Das zeigt, was für ein Mensch er wirklich war! Diese Kinder wissen nicht mehr, was richtig oder falsch ist, respektieren keine Gefühle, kennen keine Grenzen und keine Werte mehr.«
»Aber gerade Jonas hatte Werte, die ihm wichtig waren«, widersprach Pia.
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