Mordshunger
Impuls, den ihr Gehirn zusätzlich verarbeiten müsste, und reisen zurück in die Vergangenheit. Dann leben sie alles noch mal durch und haken es gewissermaßen ab, schön der Reihe nach. Die Katharsis tritt ein, wenn sie dort angelangt sind, wo sie seinerzeit in Paralyse fielen.«
»Und dann wachen sie auf?«
»Nicht immer. Aber es sind etliche Fälle bekannt. Sie sind plötzlich wieder da und knüpfen nahtlos an den letzten Augenblick ihres bewussten Erlebens an, als wäre keine Zeit vergangen. Ein mir bekannter Arzt erzählte kürzlich von so einem Fall. Einer seiner Patienten war Zeuge des Mordes an seiner Frau geworden, scheußliche Sache. Er fiel in Katatonie. Als er erwachte, war er voller Trauer. Aber er hatte es verkraftet!«
»Und wie lange war er weg gewesen?«, fragte Cüpper. »Einen Tag? Eine Woche?«
Der Professor blieb stehen und schenkte ihm ein fast entschuldigendes Lächeln. »Nein. Dreißig Jahre.«
Mittlerweile lagen die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung aus Wiesbaden vor. Inka von Barnecks Wohnung stellte nicht gerade eine Fundgrube dar. Allerdings hatte man im Wohnzimmer Haare gefunden, die nicht ihr gehörten. Einige davon entstammten dem unteren Körperbereich und wurden zusammen mit anderen Fakten als Beweis gewertet, dass Inka es kurz vor ihrem Tod auf dem Teppich getrieben hatte. Der Liebhaber war demnach blond – und trug Paillettenkleider, Cüpper warf einen Blick auf den zweiten Bericht. Aus dem Grüngürtel wurde gemeldet, dass der Mord tatsächlich auf dem Kiesweg stattgefunden hatte. Man untersuchte noch die Spuren eines Wagens, was sich wegen der Regenfälle als schwierig erwies. Fingerabdrücke gab es keine, auch nicht auf dem Messer. Unterm Strich enttäuschend. Zwischen alldem eine Notiz, wonach Inka von Barnecks Leiche zur Bestattung freigegeben war. Sie sollte eingeäschert werden.
Cüpper schaffte mit einer Armbewegung Platz auf seinem Schreibtisch und ging daran, eine neue Liste mit Verdächtigen aufzustellen.
Seine Gedanken wanderten zu Eva Feldkamp. Er hatte versucht, sie zu beruhigen, während von Barneck bebend vor Wut von der Baustelle gestürmt war, beschämt durch ihre Vorwürfe, vor allem aber, nachdem ihm klar geworden war, in welcher Beziehung sie zu Max gestanden hatte.
Cüpper erklärte ihr geduldig, dass von Barneck zum Zeitpunkt des Mordes in der Villa gewesen war. Sie brach in Tränen aus, wiederholte die Beschuldigungen. Von Barneck war für sie der Mörder, weil er Hartmanns Tod in Kauf genommen hatte. Seine Mordschuld war moralischer Natur. Dass Hartmann den Job aus freien Stücken und in Kenntnis aller Risiken angenommen hatte, wollte sie nicht hören.
Schließlich musste Cüpper sie daran erinnern, dass sie diesen Zustand selber jahrelang geduldet hatte. Allmählich brachte er sie zur Besinnung. Schließlich willigte sie ein, sich mit von Barneck auszusprechen. Sie versprach, kein zweites Mal mehr die Kontrolle zu verlieren. Er versicherte im Gegenzug, von einer Festnahme wegen versuchter Körperverletzung abzusehen.
Etwas in ihr war zerbrochen. Als er ging, erkannte er die strahlende Schönheit nicht mehr, sondern sah nur eine Hülle.
Wie sehr musste sie Max geliebt haben.
Traurig dachte Cüpper, dass sie recht hatte. Jemanden zu bezahlen für die Möglichkeit, getötet zu werden, war kein Mord. Aber es war Schuld.
Erst auf der Zoobrücke wurde ihm bewusst, dass er soeben für von Barnecks Unschuld eingetreten war.
Und plötzlich überkam ihn das Gefühl, als hätte er die ganze vorangegangene Szene auf einem Fernsehschirm erlebt, zweidimensional und seltsam unwirklich, die Farben zu grell, der Ton zu laut.
Fundsachen
Um die Mittagszeit kam Rabenhorst in sein Büro und pfiff wie ein Teekessel. Offensichtlich war er bester Laune.
Cüpper brachte ihn mit knappen Worten auf den letzten Stand.
»Alles kalter Kaffee«, sagte Rabenhorst und setzte sich.
»Warum?«
»Darum.« Er griff in seine Jacke und legte Cüpper einen Stapel Fotos vor die Nase.
»Was ist das?«
»Haben wir in Hartmanns Wohnung gefunden.«
Cüpper nahm die Fotos, betrachtete sie der Reihe nach, starrte Rabenhorst an, betrachtete sie ein zweites und ein drittes Mal und pfiff leise durch die Zähne. »Mann!«
»So was in der Art habe ich auch gesagt«, nickte Rabenhorst.
Die Bilder zeigten ein geschmackvoll eingerichtetes Schlafzimmer, immer aus derselben Perspektive aufgenommen. Auf dem Bett ein Mann und eine Frau, nackt und in eindeutigem Miteinander
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