Mordshunger
Vase wieder auf die Schreibtischplatte knallte. Immer wieder fing er bei Null an. Das Schlimmste war die Gewissheit, dass es gar nicht um Symbolismen ging, sondern um etwas unglaublich Profanes. Er hatte die Wahrheit gesehen! Die Auflösung war geradezu lächerlich einfach!
Es musste etwas mit dem Herunterfallen zu tun haben. Genauer gesagt mit dessen Verhinderung. Vielleicht lag hier die Antwort. Im Verhindern des Herunterfallens.
Und wenn man die Szene nun weiterdachte?
Was wäre geschehen, wenn von Barneck nicht zugegriffen hätte? Der Becher wäre aufgeschlagen, das Wasser ausgelaufen. Auslaufende Flüssigkeit. Inka von Barneck war ausgelaufen, sie war gestürzt, als ihr der Mörder oder die Mörderin das Messer über die Kehle zog.
Überall Blut. Rot wie eine Rose …
Cüpper stand auf und schaltete den Fernseher aus. Er kam einfach nicht weiter.
Es war fast eins. Schlafen gehen, dachte er. Im gleichen Moment wusste er, dass er im Bett liegen würde, mit offenen Augen an die Decke starrend, immer wacher werdend …
Bloß nicht!
Sekunden später fiel die Wohnungstür hinter ihm zu.
Südstadt
Ihr Bewusstsein trieb auf einer See aus Schlaf. Mit äußerster Willensanstrengung öffnete sie die Augen.
Dunkel.
Sie spürte etwas Weiches auf ihrem Gesicht, schüttelte den Kopf, versuchte es wegzuziehen. Sie konnte ihre Hände nicht bewegen.
Jemand stöhnte langanhaltend. Sie selbst.
Das Weiche verschwand. Licht drang in ihre Augen. Sie blinzelte und stöhnte noch lauter. Der weiße Haarschopf schob sich in ihr Blickfeld. Sie sah sein Lächeln.
Dann die Spritze. Voller Panik schüttelte sie den Kopf und begann zu schreien, aber es klang dumpf und monoton. Er lachte.
»Du willst mir was erzählen? Wie schade, dass ich keine Zeit habe.«
Etwas drang schmerzhaft in ihre Armbeuge ein.
»Nur eine kleine Dosis gegen schlechte Träume«, sagte er freundlich. »Übrigens, da du schon mal wach bist, ich habe dein letztes Opfer angerufen. Marion, die liebe Kleine. Morgen werde ich sie treffen. Daddy kommt! Sie vertraut mir. Schrecklich nur, dass du mir nachschleichen und das Messer auf sie schleudern wirst.«
Sie gab jeden Widerstand auf. Fühlte, wie die Betäubung zurückkam. Schloss die Augen.
»Ich werde dich jetzt alleinlassen. Muss wieder nach Marienburg, am Ende werden sie mich noch vermissen.«
Noch einmal stöhnte sie.
»Nein, du hast mir nichts mehr zu erzählen, Liebling. Du bist doch tot. Schon vergessen?«
Eine Woge griff nach ihr, spülte sie fort.
Sie ließ sich fallen und versank.
Fünfter Tag
Ins Licht
Cüpper streifte am Rheinufer entlang, bis der Morgen dämmerte.
Plötzlich dachte er an die Gurke.
Zwischen dem nachtgetränkten Fluss und dem Tagesanbruch manifestierten sich die absonderlichsten Gedanken, erhellt von einem Streifen Licht am Horizont.
Eine Gurke in einem Becher, fallend …
Als er endlich einsehen musste, dass seine Konzentration drastisch nachgelassen hatte, ging er zurück nach Hause und legte sich angezogen aufs Bett.
Rabenhorst. Der würde wahrscheinlich schlafen wie ein Bär.
Rabenhorst blinzelte.
Etwas hatte ihn geweckt. Versalzen, war sein erster Gedanke. Er hatte zu viel Salz genommen.
Aber Junge, so was hat man im Gefühl!
Gähnend verscheuchte er die Gedanken an Mütter und Reibekuchen und sah auf den Radiowecker. Sechs Uhr zehn.
Was war bloß los mit diesem Morgen?
Rabenhorst stand auf und ging zum Fenster. Er konnte es kaum glauben.
Ein Sonnenstrahl!
Er war von der Sonne wachgeworden. Es gab sie also doch noch.
Einen Augenblick lang schwankte er zwischen Bett und Kaffee. Dann entschied er sich für Kaffee.
Cüpper wäre stolz auf ihn gewesen.
Aber Cüpper verschlief. Es war halb acht, als er hochschreckte, ebenso zerknautscht wie seine Kleidung.
War er doch noch eingedämmert!
Dunkel entsann er sich eines Traumes. Von einem überdimensionalen Plastikbecher mit einer monströsen Pflanze darin, der sich über eine Klippe neigte und direkt auf ihn zustürzte. Er selber klein wie eine Wanze, und dann eine Hand, die heransauste und den alles beendenden Fall aufhielt.
Hand und Becher hatten über ihm geschwebt.
Dann, ganz langsam, Finger für Finger, hatte die Hand den Becher wieder losgelassen –
Cüpper rieb sich die Augen. Er hustete und ging ins Bad. Seine Finger fanden von selbst den Weg zum Rasierzeug. Mechanisch seifte er sich ein, während er sein übernächtigtes Gesicht im Spiegel betrachtete. Er griff zum Rasierer und
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