Mordsidyll
Schritte. Anna konnte genau verfolgen, wie er Stufe um Stufe erklomm. Sie war vor Angst wie gelähmt. Was sollte sie tun?
Der Unbekannte kam immer näher. Gleich würde er den oberen Treppenabsatz erreicht haben. Im fahlen Mondlicht fiel Annas Blick auf die Klinke. Sie musste die Tür abschlieÃen! Doch ihre Hand griff ins Leere. Dieser ScheiÃschlüssel! Wo war nur dieser ScheiÃschlüssel?
Mit ihrem ganzen Gewicht drückte Anna ihren Rücken gegen die Schlafzimmertür. Bilder schossen durch ihren Kopf, wie ihr jemand die Kehle durchschnitt  ⦠Wie ihr jemand kalte Lederhandschuhe an den Hals legte  ⦠Wie jemand sie mit einer Drahtschlinge erwürgte  ⦠Anna japste nach Luft. Auf Zehenspitzen eilte sie zum Nachttisch. Leise zog sie die Schublade auf und wühlte darin herum. Wie viel Zeit würde ihr noch bleiben?
Endlich stieÃen ihre Finger auf kaltes Metall. Sie griff nach dem Gegenstand. Der Schlüssel! Jetzt nur keine Sekunde verlieren, keine einzige Sekunde, dachte Anna verzweifelt. Die wenigen Schritte bis zur Tür zogen sich endlos dahin. Alles erschien ihr wie ein Albtraum, so absurd und irreal. Am liebsten hätte sie hysterisch gelacht. Panisch begann sie am Schlüsselloch zu hantieren. Ihre Hände zitterten. SchlieÃlich traf sie. Mit zitternden Händen drehte sie den Schlüssel herum. Sie hielt die Luft an, als sie sah, dass die Klinke langsam hinuntergedrückt wurde. Schnell drehte Anna den Schlüssel weiter, bis der Riegel einrastete  â die Tür war abgesperrt!
Der Einbrecher gab seine Vorsicht auf. Energisch rüttelte er am Griff und versuchte, gewaltsam einzudringen. Anna schrie. Sie schrie aus Leibeskräften.
*
Alexej hatte als Strohmann eine alte Fabrikhalle gemietet. Etwas abseits der LandstraÃe zwischen Kierspe und Meinerzhagen gelegen, schützten sie dichte Bäume vor neugierigen Blicken. Ein idealer Platz für das Hauptquartier ihrer kriminellen Organisation, das Alexej offiziell als Autowerkstatt angemeldet hatte. Viktor hatte ihm gar nicht so viel Weitsicht zugetraut.
Völlig ungestört konnten sie in der Halle die Teile umpacken, die die Lkws aus Russland in Hängern brachten und die sie als Markenware in Umlauf brachten. Bei langen nächtlichen Aktionen diente ihnen das Bett in der hinteren Ecke des fensterlosen Büros, das von der Halle abgetrennt war, als Ruhestätte. Wo sonst Roman und vor allem Alexej schliefen, saà nun Ãzlem zusammengekauert, mit Handschellen an den Metallrahmen gekettet. Die Wimperntusche war verwischt, das fahle Neonlicht lieà ihre Augenringe noch dunkler erscheinen. Nur das Flimmern des kleinen Fernsehers auf dem wackligen Aktenschrank, das Viktor nur aus dem Augenwinkel wahrnahm, belebte die Atmosphäre ein wenig.
Viktor sah zu Roman und Alexej hinüber, die rauchend vor seinem Schreibtisch saÃen. Beide starrten auf Viktors Handy, das neben dem überfüllten Aschenbecher auf dem Schreibtisch lag.
»Wie lange jetzt?«, fragte Alexej.
»Fünf Stunden«, antwortete Roman und blickte auf seine Rolex.
»Dein Mustafa hat wohl keine groÃe Sehnsucht nach dir, was?«, fauchte Viktor die Geisel an. Er drückte seine Zigarette aus und fächerte den Rauch des letzten Zuges mit der Hand weg.
»Was sollen wir jetzt mit ihr anstellen?«, fragte Roman.
»Genau, was ist, wenn sie Mustafa völlig egal ist?«, ergänzte Alexej.
»Eine türkische Verlobte ist eine Heilige! Glaubt mir, er wird alles daran setzen, sie zu befreien. Stellt euch nur die Schmach vor! Er würde für immer sein Gesicht und den Respekt seiner Leute verlieren«, erklärte Viktor.
»Und was ist, wenn er wirklich nichts mit dem Anschlag zu tun hat? Ich meine, das kann doch sein, oder? Wir haben überhaupt keine Beweise.« Roman blickte Viktor nachdenklich an.
»Kann sein. Aber selbst wenn  â er ist so einflussreich, dass er die Killerin auftreiben wird.«
»Clever, Viktor. Ey, das ist wirklich genial von dir. Er macht unsere Arbeit. Wir bekommen die Schlampe auf dem Silbertablett serviert und können Boris rächen. Apropos, habt ihr was von ihm gehört?«, fragte Alexej.
»Er liegt noch im Koma. Es ist besser, wenn wir nicht im Krankenhaus aufkreuzen. Ich habe eine Spionin als Putzfrau auf der Station eingeschleust. Sobald sich was ändert, werden wir in Kenntnis gesetzt«,
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