Mordsidyll
fordernde Brüllen der Kühe übertönte alles.
Nackt eilte Anna nach oben ins Schlafzimmer, um sich ihre Arbeitskluft anzulegen. Mit dem karierten Baumwollhemd und der grünen Arbeitshose erfüllte sie jegliches Klischee einer Bäuerin im Sauerland, dachte sie lächelnd. Fehlte nur noch der graue Kittel, den sie immer griffbereit unter dem kleinen Vordach vor der Haustür aufhängte.
Wieder unten angekommen, stieg sie in die grünen Gummistiefel und eilte über den gepflasterten Weg den Hügel hinauf zum Kuhstall. Als sie die groÃe Stalltür zu Seite schob, sah sie, wie sich ihre Milchkühe bereits vor dem Zugang zur Melkstation drängten. Anna blickte stolz auf das moderne Innenmelkerkarussel, als sie dessen Eingang öffnete und die ersten Tiere zu den Melkplätzen führte. AnschlieÃend stieg sie die Stufen hinunter zum gefliesten Boden vor dem Rondell, um mit der Arbeit zu beginnen. Mit der Hand melkte sie die Zitzen von Agatha Christie kurz an und stülpte dann die Melkbecher darüber. Es folgten Enid Blyton, Rebecca Gablé und Isabel Allende. Im Anschluss tippte Anna die Namen in das Panel der Melkstation ein. Da Anna ihre Kühe immer nach Schriftstellerinnen benannte, konnte sie sich die Namen bestens merken. AuÃerdem floss ihr groÃes Hobby â das Lesen â auf diese Weise wenigstens ein bisschen in ihren Arbeitsalltag ein.
Nachdenklich schaute sie zu, wie die Milch durch die durchsichtigen Schläuche floss. Alles war wie immer. Ihre Tat vor der Justizvollzugsanstalt schien unendlich fern, hatte nichts mit ihrem Leben zu tun. Die Routine holte sie ein, wie jeden Tag von 5 Uhr morgens bis 7 Uhr abends  â auch an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen.
Plötzlich stieg Anna der unbändige Gestank von Kuhmist in die Nase. Auch wenn sie sich damit arrangiert hatte, roch es heute doch anders, irgendwie intensiver. Anna holte eine Taschenlampe aus dem Werkzeugregal und richtete sie auf den Güllerost am Boden, der die Fäkalien durch einen Kanal in den Behälter hinter dem Stall leitete. Die Jauche stand eindeutig zu hoch. Wahrscheinlich war der Abfluss am Ausgang mal wieder verstopft. Sie musste diese Fehlkonstruktion unbedingt umbauen lassen, wenn etwas Geld übrig blieb. Aber für den Moment musste sie sich anders behelfen  â am besten sofort.
Schnell wandte sich Anna ihren Tieren zu und nahm die Becher von den Eutern. Mechanisch griff sie in den Eimer mit Melkfett, rieb die Zitzen ein und drängte die Milchkühe aus dem Rondell heraus, um Platz für die nächsten vier zu schaffen. Mit allen 50 Kühen würde sie rund zwei Stunden beschäftigt sein. Früher, mit Klaus, hatten sie sich die Arbeit geteilt, da war noch Zeit für andere Erledigungen geblieben, und vor allem für ein Privatleben. Doch jetzt, wo sie den Hof allein bewirtschaftete, musste sie sich ihre Zeit genau einteilen.
Obwohl Anna den Melkvorgang eigentlich beaufsichtigen musste, rannte sie aus dem Stall, als die Milch über die Becher durch die Schläuche schoss. Sie lief um das Gebäude herum bis zu der Stelle, wo der Güllekanal in den groÃen, runden Behälter mündete. Tatsächlich tropfte nur ein klägliches braunes Rinnsal heraus. Anna wischte sich den Schweià von der Stirn, eilte zurück, trieb die vier Kühe aus dem Karussell und schloss vier neue an die Anlage an. Dann rollte sie den Hochdruckreiniger, der neben dem Eingang des Stalles stand, zu dem verstopften Güllekanal. Mit dem Stecker in der AuÃendose testete sie das Gerät kurz, bevor sie den Strahl in den Kanal unterhalb des Stalls lenkte. Der kochend heiÃe Dampf zischte kurz in der kalten Aprilluft, dann besprenkelten auch schon feine Spritzer Kuhmist ihren grauen Kittel. Anna schüttelte bei dem Gedanken den Kopf, dass die Menschen aus der Stadt den Gestank von KuhscheiÃe als âºfrische Landluftâ¹ bezeichneten. Wenn man den Güllegeruch als âºoriginal Landluftâ¹ in Dosen abfüllen könnte, würde man wahrscheinlich ein Vermögen damit verdienen.
Anna hielt die Hochdruckdüse in den Abfluss, bis der Wassertank des Reinigers leer war. Langsam löste sich die Verstopfung, sodass die übel riechenden Fäkalien ungehindert in den Behälter strömen konnten. Sie musste unbedingt die Gülle so bald wie möglich ausfahren, sonst würde der Behälter überlaufen. Doch
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