Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
vielleicht das Motiv? Konnte es jemand getan haben, dessen Anwesenheit an jenem Freitagmorgen ganz selbstverständlich schien und deshalb niemandem auffiel? Weil es sich um eine Mutter handelte?
Noch eine Sache stieß Jäckle seit Tagen auf, wie ein schwer verdauliches Abo-Essen im »Goldenen Löwen«. Warum ließ die Körner ihr sonst so wohlbehütetes Bürschchen an diesem Morgen alleine den Fußweg gehen, obwohl sie das sonst nie tat? Sicher, da war dieser Friseurtermin, aber trotzdem, irgend etwas stimmte da nicht, das spürte Jäckle auf einmal ganz deutlich. Es war nichts Konkretes, mehr so ein Druck, irgendwo zwischen Herz und Magen. Das Dumme war, Staatsanwalt Monz interessierte sich nicht für Jäckles Magengrimmen. Monz wollte einen Täter, und zwar so rasch wie möglich.
Am Montagmorgen hielt Paula es für das Beste, den Alltag so schnell wie möglich wieder einkehren zu lassen, schon wegen Simon. Sie brachte ihn mit dem Motorrad zum Kindergarten, zur gleichen Zeit wie am Freitagmorgen. Drei Tage nur, und doch schien dieser Freitag eine Ewigkeit her zu sein.
Paula stemmte sich gegen die schwere Doppelglastür, sie betraten den Garderobenraum, in dem es säuerlich nach muffiger Kleidung und Kinderfußschweiß roch. Es war still, stiller als gewöhnlich. Die meisten Kinder waren schon da, und doch schienen sie nicht so aufgedreht wie sonst. Oder bildete sie sich das nur ein? Eilig zog sie die Schleife seiner Hausschuhe fest und brachte Simon zur Tür des Gruppenraums. Etwas Beklemmendes schwebte im Raum, Gespräche erstarben, als Paula mit Simon vorbeiging, sie spürte die Blicke der Frauen im Rücken, wie Berührungen. Auch Simon schien die Veränderung wahrzunehmen, seine kleine Hand drückte fest die ihrige, und er tappte brav neben ihr her. An anderen Tagen riß er sich los und raste den Gang entlang.
Simons Kindergärtnerin hieß Jutta Kropp. Sie war dick, grauhaarig und ledig, eine Kindergärtnerin vom alten Schlag, die sich von den Kindern noch mit »Tante« anreden ließ. Sie begrüßte Simon an der Tür mit wehmütigem Lächeln. Fast mitleidig strich sie ihm übers Haar. Zu Paula sagte sie nichts außer einem sehr knappen Gruß.
Paula achtete nicht darauf, sie küßte Simon zum Abschied und wandte sich um. Seltsamerweise war der Korridor heute voller Leute, genauer gesagt Mütter, kaum Kinder. Paula blieb stehen, denn zwei Frauen in den üblichen ausgeleierten Jogginganzügen und mit zerdrückter Dauerwelle standen im Weg. Müssen Jogginganzüge eigentlich grundsätzlich lila-giftgrün-leuchtorange-neonpink sein, fragte sich Paula nebenbei. Öfter schon hatte sie dem Phänomen nachstudiert, weshalb sich Hausfrauen morgens derart gehen ließen. War es Absicht, um sich rein äußerlich von denen abzuheben, die ordentlich gekleidet und frisiert zur Arbeit gehen mußten?
Die zwei Jogginganzüge sprachen, wie sollte es anders sein, über das Ereignis und machten keinerlei Anstalten, Paula auszureichen.
»’tschuldigung.« Paula drückte sich an den beiden vorbei. Sie wären nicht einen Zentimeter zur Seite gerückt, und obwohl Paula mit ihrer Lederjacke bereits an der Wand entlangschabte, ließ es sich nicht vermeiden, daß sie eine der Frauen anrempelte. Paula entschuldigte sich nochmals, aber dann fuhr sie herum. Hatte die eine nicht gerade eben »Miststück« gesagt? Die Frau, Paula kannte ihr Gesicht, aber nicht den Namen, sah ihr geradewegs in die Augen. Allmählich wurde Paula klar, daß das gehäufte Auftreten der Mütter an diesem Morgen kein Zufall war. Wie eine Schlechtwetterfront ballten sie sich am Ende des Flurs, es war ein bedrohlicher Aufzug, als warteten sie auf etwas Bestimmtes.
»Daß die sich hertraut, wo sie doch den Max auf dem Gewissen hat«, zischte die frisch erblondete Annemarie Brettschneider, die Max schon einmal vor Doris als »echten Teufelsbraten« bezeichnet hatte, und hinter ihren Brillengläsern blitzte es vor Empörung. Paula reagierte unklug. Sie blieb stehen und sah die Brettschneider an.
»Was meinen Sie damit?« fragte sie mit fester Stimme, obwohl sie es nur zu genau wußte.
Die Brettschneider warf sich in die Brust. »Sie haben doch diesen Pollacken bei sich arbeiten lassen. Wenn Sie ihren Garten schon nicht selber in Ordnung halten können, dann suchen Sie sich doch wenigstens einen anständigen Menschen dafür.« Ihre Stimme hallte blechern durch den Flur mit den Herbstbildern aus gepreßten Blättern, das goldene Kreuz im Ausschnitt ihres babyblauen
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