Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
war. Und das alles war ein Geschenk für diese pseudointellektuelle Zicke, die noch dazu boshafte Artikel schrieb.
Ganz hinten in der Akte befand sich ein solcher, obwohl Zeitungsberichte über Konzerte des Jugendorchesters der Stadtkapelle eigentlich nichts bei den Sorgerechtsfällen zu suchen hatten. Mit Leuchtstift war folgende Zeile hervorgehoben:
Daß sich der junge Pianist Herbert Schlich ein paarmal in der Tonart vergriff, störte das Bild des ansonsten qualitativ hochwertigen Konzertes empfindlich.
Der Artikel stellte zweifellos eine böswillige, völlig ungerechtfertigte Kritik am künstlerischen Schaffen des Sohnes ihrer Cousine dar. Herbert Schlich war ein schüchterner, aber begabter Junge, der ihr sehr am Herzen lag. Die Behauptung, Herbert hätte sich in der Tonart vergriffen, war eine pure Verleumdung. Der Sänger, dieser Trottel, der hatte viel zu hoch gesungen und der Klarinettist falsch dazu gespielt! Herbert hatte, im Gegenteil, sogar versucht, die Sache zu retten, so wie sich eine gute Tänzerin den ungelenken Schritten ihres unmusikalischen Partners anpaßt, um das Bild der Harmonie nach außen hin aufrechtzuerhalten. Aber davon hatte die Nickel ja keine Ahnung! Der empörte Leserbrief, den sie damals geschrieben hatte, wurde zwar gedruckt, nützte jedoch nichts. Herbert flog zum Beginn der Ferien aus dem Jugendorchester.
»Es ist Zeit«, verkündete sie grimmig einem unsichtbaren Publikum, »wieder einmal einen Besuch bei der Nickel zu machen.«
Sie klappte die Akte zu und sah in ihren Terminkalender. Zum ersten Mal seit wer weiß wie vielen Tagen lächelte Isolde Schönhaar.
Ein Glück, daß sie sich drinnen zusammengerottet haben, überlegte Paula mit einem Anflug von Galgenhumor, als die Tür des Kindergartens hinter ihr zuschlug. Sonst würden sie mir jetzt in ihrem selbstgerechten Zorn garantiert ein paar Steine hinterherwerfen. Statt dessen hatte jemand ihr Motorrad umgeworfen. Heiße Wut stieg in ihr auf. Alleine würde sie es nicht schaffen, die schwere Maschine aufzurichten. Sie versuchte es trotzdem, sie zerrte und stemmte, Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen, es war ihr egal, es tat sogar ganz gut.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Es war Frau Lampert, die Mutter von Katharina, eine resolute Frau, ausgelastet mit drei Kindern und einem arbeitslosen Mann.
»Danke«, keuchte Paula erleichtert und überrascht zugleich.
»Schnell«, sagte Frau Lampert, als fürchtete sie, dabei gesehen zu werden, und Paula konnte ihr das nicht einmal verdenken. Sie war ja nun eine Unperson, ein Paria.
Zu zweit bekamen sie die Kawa wieder auf die Räder.
»Ich … vielen Dank«, stammelte Paula, und selten hatte sie diese Worte so ehrlich gemeint. »Ach, Frau Lampert …«
Widerwillig blieb die Frau stehen.
»Es könnte sein, daß ich morgen abend weg muß. Könnten Sie die Katharina fragen, ob …«
»Katharina geht nicht mehr babysitten«, unterbrach Frau Lampert ruhig und bestimmt.
»Oh«, sagte Paula enttäuscht.
»Das mit dem Max …« Frau Lampert hob bedauernd die Schultern.
»Ich verstehe. Vielleicht in ein paar Wochen wieder.« Aber die Lampert schob bereits ihren Kinderwagen weiter und schubste eilig das größere Kind vor sich her.
Paula fuhr nach Hause, rief bei Weigand an und entschuldigte sich für diesen Tag mit Kopfschmerzen. Das war noch nicht einmal gelogen. Weigand zeigte Verständnis. »Ist ja kein Wunder. Wie geht es Doris?«
»Wie wohl?«
»Meinst du«, fing Weigand an, und es war dieser Ton, dem meist der Auftrag für die Lesung eines begnadeten Mundartlyrikers oder für ein Konzert der landkreisweit gefürchteten Feuerwehrkapelle folgte, »ich meine … wenn sie wieder einigermaßen hergestellt ist, meinst du, du könntest sie für ein Exklusivinterview gewinnen? Schließlich kennt ihr zwei euch doch gut, ihr redet doch sicher sowieso irgendwann miteinander darüber, oder nicht? Es interessiert die Leser, was in einer Mutter vorgeht, die …«
»Das ist ja widerlich«, brüllte Paula, »das hätte ich nicht von dir erwartet. Ich bin doch nicht der Schulze!« Sie knallte den Hörer auf die Gabel und vergrub das Gesicht in den Händen. Ein Alptraum, dachte sie, das alles ist bloß ein Alptraum. Wenn’s doch bloß ein Alptraum wäre, damit kenne ich mich wenigstens aus.
Später fuhr sie zum Einkaufen in den großen Supermarkt ans nördliche Ende der Stadt, wo ein kleines Industriegebiet in die Landschaft
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