Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
seltsam«, daß niemand das Kind auf seinem kurzen Weg gesehen hat oder sonst eine auffällige Beobachtung machte. Zwei fünfjährige Mädchen wollen einen Mann mit dunklem Anzug auf dem Spielplatz bemerkt haben. Jäckle hält diese Angaben aufgrund der jüngsten Ereignisse jedoch nicht unbedingt für zuverlässig, man verfolgt aber gegenwärtig jede Spur. Ein Verdächtiger wurde in Untersuchungshaft genommen. Der Mann war bereits nach dem immer noch ungeklärten Verschwinden des sechsjährigen Benjamin Neugebauer von der Polizei verhört worden. Zum fraglichen Zeitpunkt, am Morgen des 14. Oktober, arbeitete der Mann in einem Garten in der Ziegeleisiedlung. Obwohl diese Tatsache auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Verschwinden Max Körners hinweist, ist Bruno Jäckle nach wie vor skeptisch. »Wir ermitteln weiter«, war alles, was er und die Beamten einer Sonderabteilung des Landeskriminalamtes zu dem Fall verlauten ließen. Es besteht die Vermutung, daß das Kind gar nicht die Absicht hatte, in den Kindergarten zu gehen, sondern sich von seinem Weg entfernte und beim unbeaufsichtigten Spielen in den Grundsee gefallen sein könnte. Ein Polizeihund nahm dort, am Ufer, seine Spur auf. Trotz aufwendiger Suche konnte jedoch bislang kein Leichnam gefunden werden. Wahrscheinlicher ist, daß Max Körner einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Die wichtigste Frage für die ermittelnden Beamten lautet zum gegenwärtigen Zeitpunkt: Kommt für die Fälle Benjamin Neugebauer und Max Körner derselbe Täter in Frage, oder ist diese Serie nur ein schrecklicher Zufall?
Dem war nicht viel hinzuzufügen. Außer, daß Paula Nickel ihre Nachbarin Doris Körner und den Jungen beim Wegfahren beobachtet hatte. Dieselbe Person, in deren Garten dieser Russe gearbeitet hatte. Auch der Postbote hatte Max im Auto gesehen, mit ihm hatte die Körner sogar ein paar Worte gewechselt. Die wichtigste Zeugin aber hatte sich erst am Sonntagmorgen gemeldet. Sie hatte Max aus dem Auto steigen sehen. Es war das Mädchen, das am Abend zuvor bei ihm Babysitten war. Nachdenklich schüttelte Jäckle den Kopf und ließ die Zeitung sinken. Der Artikel war von Lokalchef Weigand selbst geschrieben worden, Gott sei Dank. Dieser Schnösel Schulze hätte sein Machwerk garantiert wieder mit Phrasen wie »Was gedenkt die örtliche Polizei zum Schutze unserer Kinder zu unternehmen?« gekrönt.
Jäckle hielt es in seinem Büro nicht länger aus. Er stieg in seinen klapprigen Fiat, ein Sondermodell, grellorange mit schwarzem Dach, das vor zehn Jahren sicher einmal der letzte Schrei gewesen war. Inzwischen war es nur noch das Letzte, wie sein Kollege Hofer zu bemerken nicht müde wurde. Es war nicht nur das häßlichste Auto der Stadt, es war obendrein geschwätzig: »Check controle hauchte eine sinnliche weibliche Stimme, als er den Motor startete. »Alle Funktionen in Ordnung. Gute Fahrt.« Irgendein Witzbold unter den zahlreichen Vorbesitzern hatte einen Bordcomputer installieren lassen, der mit zunehmendem Alter immer spinnerter wurde.
»Waschwasserstand kontrollieren«, mahnte die Stimme, als er den Motor auf dem Parkplatz des Kindergartens abwürgte.
Er umrundete das Gelände von Kindergarten und Schule, bis er an der Stelle ankam, wo Max zum letzten Mal gesehen worden war. Von drei gegenüberliegenden Reihenhäusern aus konnte man die ersten paar Meter des Fußwegs beobachten. Die Leute waren schon befragt worden, umsonst. Wer hatte morgens um acht schon Zeit, müßig aus dem Fenster zu schauen?
Jäckle schritt langsam zwischen den Büschen hindurch. Jetzt, mitten am Vormittag, war es hier ruhig, nur eine Frau auf einem Fahrrad begegnete ihm. Der Kerl konnte hier gewartet haben, schon seit dem Morgen. Womöglich war er schon im Dunkeln hergekommen. Wo würde er warten? Bestimmt nicht mitten auf dem Weg. Auch nicht auf dem Sportplatz, wo ihn jeder sehen konnte. Jäckle ließ seine Blicke über das Gebüsch schweifen, das den Weg säumte. Er kannte die Namen der Gewächse nicht. Einige hatten grüne, andere rote Blätter, ein paar waren dornig, an etlichen hingen rote Beeren. Der Boden war voll von ihnen, die meisten zertreten. An Bosenkows Schuhen hatte man diese Beeren ebenfalls gefunden. Er leugnete nicht, auf dem Spielplatz gewesen zu sein. Nur nicht an diesem Morgen. Außerdem gab es auch im Garten von Paula Nickel diese Beeren. Die Spurensicherer vom LKA waren sehr gründlich vorgegangen, bis heute morgen war das Gelände abgesperrt gewesen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher