Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
hatten nach Fußspuren geforscht, die Abfallbehälter durchwühlt, Kippen akribisch aufgesammelt, jeden Zweig nach Haaren oder Textilfasern abgesucht. Die Auswertung ihrer mageren Funde dauerte noch an.
Jäckle zweifelte nicht an den Fähigkeiten seiner Münchner Kollegen. Was er hier tat, war nicht so ohne weiteres zu erklären. Er versuchte, ein Gefühl für den Ort zu bekommen, zu erspüren, was vorgefallen sein könnte. Es war eine Sache des Instinkts, weniger des Verstandes. Da lief ein schmaler Trampelpfad durch das Gebüsch, eine Abkürzung zum Spielplatz. Zweige waren abgerissen worden, im Boden Eindrücke von Fahrradreifen. Jäckle stellte sich in die Mitte des Wegstücks und sah sich um. War es hier? Hatte er hier gestanden und die Kinder beobachtet, die den Weg entlangkamen? Vielleicht schon seit Tagen, bis endlich das richtige Kind kam, ein kleiner Junge, blond? Jäckle strich langsam auf dem Spielplatz umher, doch das unbestimmte Gefühl, auf das erwartete, wollte sich nicht einstellen.
Am Freitagmorgen war der Boden leicht gefroren gewesen, es gab also keine frischen Fußabdrücke. Hatte der Kerl das gewußt? War er so intelligent, oder war der Zufall auf seiner Seite? Jäckle setzte sich auf die Bank und ging, wie schon zigmal in den letzten drei Tagen, die Tatsachen durch: Zwischen der Ankunft von Max beim Fußweg, laut der Mutter und der Zeugin etwa um zehn nach acht, und der Begegnung der Nickel mit Bosenkow in ihrem Garten lag etwa eine dreiviertel Stunde. Zu Fuß brauchte man jedoch höchstens fünfzehn Minuten für diese Strecke. Aber wie ist er mit dem Kind hier weggekommen? Er wäre doch gesehen worden, garantiert, selbst dann, wenn er in der Nähe ein Auto geparkt hätte, ein gemietetes oder gestohlenes. Um zehn nach acht an einem Freitagmorgen war alle Welt unterwegs, zur Arbeit, zur Schule, zum Kindergarten, zum Einkaufen. Und zum Friseur.
Nein, man konnte der Mutter keinen Vorwurf machen, es war nichts dabei. Viele Kinder gingen diesen schmalen Weg tagtäglich alleine. Verdammt, fluchte Jäckle vor sich hin, sie wußten den Ort, sie wußten den ziemlich genauen Zeitpunkt, es war doch fast nicht möglich, daß niemand etwas bemerkt hatte, daß es keinerlei Spuren gab? Was, wenn Max Körner gar nicht diesen Weg genommen hatte? Vielleicht hatte er gewartet. bis seine Mutter abgefahren war, um dann den Vormittag in der Gegend herumzustreunen? Wenn dies der Fall war, und inzwischen neigte Jäckle eher zu dieser Ansicht, dann machte es die Sache ebenso schwierig wie den Fall Benjamin Neugebauer.
Jäckle verknotete seine langen Finger im Nacken und blickte zum Himmel. Benjamin Neugebauer und Max Körner. Zwei blonde Jungen, fast gleich alt. Aber damit hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Benjamin wohnte in den heruntergekommenen Blocks hinter dem Bahnhof. Er hatte zwei Geschwister, jedes von einem anderen Vater, und eine Mutter, die von den Hausbewohnern als »Schlampe« tituliert worden war. Er war sehr selbständig für sein Alter, war gewohnt, die Nachmittage allein zu verbringen. Ein Schlüsselkind, wie seine älteren Schwestern, die mit der Aufgabe, auf den Jungen aufzupassen, hoffnungslos überfordert waren. Und da war Max Körner. Einziges Wunschkind aus einer heilen Familie. Nicht ganz so heil, naja, Krisen gab es überall. Ein kleiner Teufel, sagten die Nachbarn. Erst vor wenigen Wochen hatte es auf diesem Spielplatz ein Drama gegeben. Ein Mädchen hatte Max’ Sandschaufel benutzt, ohne ihn zu fragen. Max hatte ihr dafür das Ohr durchgebissen.
Einige Mütter hatten die Ansicht durchblicken lassen, Max hätte öfter Prügel bekommen müssen. Zu ihrem Bedauern hatte er, soweit bekannt war, gar keine bekommen. »Eine so liebe, wenn Sie mich fragen, eine zu liebe Frau, die Frau Körner.«
Doris Körner. Was wußte er über sie? Eine hübsche, kluge, durch und durch integre Frau, die Eltern Neureiche aus der Gegend von Augsburg. Die Körners lebten seit gut fünf Jahren hier. Aufs Land gezogen, als sie schwanger war. Eine vorbildliche Mutter, die Kinderbücher schrieb und selbst illustrierte. Jäckle hatte sie durchgesehen. Es waren die Art Bücher, die eine lustig-freche, unbeschwerte Kinder-Kunstwelt beschrieben, wie Mütter sie gerne sehen würden und wie sie im richtigen Leben nicht existierte. Deshalb verkauften sich die Bücher auch so gut.
Doris Körner wurde geschätzt, während ihr Sohn Max gefürchtet, vielleicht sogar gehaßt wurde, resümierte Jäckle. Lag darin
Weitere Kostenlose Bücher