Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
zwanzig Minuten geschlafen.
»Deswegen weckst du mich? Nein! Es gibt jetzt nichts Süßes!«
»Aber ich habe Hunger.«
»Dann hättest du eben mittags vernünftig essen sollen.« Simon fing erneut an zu weinen, Paula riß der Geduldsfaden. »Verdammt noch mal«, brüllte sie, »kannst du nicht ein einziges Mal ein Nein akzeptieren? Muß denn immer gleich ein großes Theater gemacht werden?«
Simon heulte nun erst recht los. Paula sah ein, daß an Schlaf nicht mehr zu denken war. Voller Zorn stand sie auf. Sie unterdrückte das heftige Bedürfnis, ihm eine Ohrfeige zu geben. Statt dessen lief sie die Treppe hinunter, ging zum Küchenschrank, wo die Süßigkeiten unter Verschluß lagerten, holte den Schlüssel vom Schrank und zog die gesamte Schublade heraus. Mit der Schublade unter dem Arm durchmaß sie das Haus, zur Tür hinaus, um die Ecke, wo die Mülltonnen standen. Gummibärchen, Fruchtgummi, Schokolinsen, Kartoffelchips und Nußpralinen, ausnahmslos alles landete im Schlund der großen, grauen Mülltonne. Simon beobachtete das Tun seiner Mutter mit schreckgeweiteten Augen.
»So! Weg mit dem ganzen Dreck«, zischte Paula wütend. »Und mit Fernsehen ist jetzt auch Schluß. Wenn du nicht ausnahmsweise mal ein winziges bißchen Rücksicht auf mich nehmen kannst, dann mag ich auch nicht mehr!« Verstört rannte Simon in sein Zimmer. Paula blieb im Garten. Sie mußte sich Luft machen, etwas Abstand gewinnen, also lief sie weg vom Haus, weg von Simons Geheul, das durch das Kippfenster im ersten Stock nach außen drang. Sie saß eine Weile am Seeufer, bis sich ihr Unmut gelegt hatte und Zweifel und Reue in ihr aufstiegen. Sie war nicht nett zu Simon gewesen, das sah sie ein, aber war es denn wirklich so viel verlangt, einmal ein Stündchen in Ruhe gelassen zu werden? Simon war ansonsten ein umgängliches, unkompliziertes Kind, doch er hatte einen Fehler: Er wollte stets beschäftigt werden. Paula hatte sich manchmal bei Doris beklagt: »Du kannst mit Simon alles machen, wirklich alles – nur nicht nichts.«
Sie ging langsam zurück zum Haus. Sie würde sich bei ihm entschuldigen, ihm versuchen zu erklären, warum sie ihn so angeschrien hatte. Tief atmete sie den warmen Duft des gefallenen Laubes ein, ihr Kopfschmerz hatte sich schon beinahe verflüchtigt. Jemand hatte eine leere Schnapsflasche über den Zaun auf ihr Grundstück geworfen. Paula hob sie auf und näherte sich dem Haus. Sie horchte. Simons Geheul hatte aufgehört. Als sie um die Ecke bog, sah sie auch, weshalb: Da saß ihr Sohn vor der umgekippten, halb entleerten Mülltonne und klaubte, immer noch ab und zu aufschluchzend, Gummibärchen und Schokolinsen aus dem Müll der vergangenen Woche.
»Simon!« rief Paula, erneut aufgebracht. Sie wollte eben zu ihm laufen und ihn schimpfend aus dem Abfallhaufen ziehen, da löste sich eine Gestalt aus dem Schatten des weit offen stehenden Hauseingangs. Die Frau ging auf Simon zu und stellte ihn auf die Beine, wobei sie ihm mit einer unbeholfenen Geste des Trostes über die naßgeweinte Wange strich. Wie in Zeitlupe drehte sie sich dann zu Paula um, ihr Blick wanderte von deren ungekämmtem Haar über ihr erschrockenes, vom Schlafmangel ausgehöhltes Gesicht bis zu ihren verkrampften Händen und blieb schließlich mit einem wissenden Ausdruck an der leeren Schnapsflasche hängen.
Lilli steuerte den Alfa langsam durch die Stadt. Es war früher Nachmittag, kaum Verkehr, und Lilli nutzte das, um mit knapp achtzig durch ihren Heimatort zu rauschen, wobei sie gleichzeitig die Szenerie betrachtete: putzige Fachwerkhäuser am Marktplatz, schöner restauriert, als sie jemals gewesen waren, allen voran das historische Gasthaus »Zum goldenen Löwen«. Vor der schnitzereiverzierten Eichentür lockte ein Schild: »Heute fangfrische Bachforellen mit Petersilkartoffeln, DM 12,80.« Am Ende des Platzes die barocke Zwiebelturmkirche, davor die Polizeiwache mit ihrem schweren, respekteinflößenden Portal, ihr gegenüber das Redaktionsgebäude des Stadtkuriers und dahinter das neue Rathaus, ein Zehn-Millionen-Bau aus Stahl und Glas und zukunftsweisender Architektur, in das demnächst alle Ämter einziehen sollten, die jetzt noch über verschiedene Gebäude der Stadt verteilt waren. Gleich hinter der Altstadt lag der mickrige Bahnhof, der beinahe jede Stunde durch einen haltenden Zug aus seinem Schlummer gerissen wurde. In gebührendem Abstand zum schmucken Kern des Städtchens standen die grauen, alten Wohnblocks, vor deren
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