Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
hinauswucherte. Normalerweise mied Paula diese seelenlose Konsumhalle, sie haßte die penetrant riechende Fleischabteilung, das plastikverpackte Einheitsobst, das Musikgesäusel und die Sonderangebote aus dem Lautsprecher, doch heute war sie dankbar für die unpersönliche Atmosphäre. Zwar standen auch hier Frauen beisammen und tuschelten über »das Furchtbare«, aber sie wurde von niemandem angesprochen und offensichtlich auch nicht erkannt.
Sie verschwendete den Vormittag an einige liegengebliebene Hausarbeiten und holte Simon gegen ein Uhr vom Kindergarten ab. Simon war eines der wenigen Kinder, die ihr Mittagessen im Kindergarten einnahmen und bis zwei Uhr bleiben mußten. Paula plagte sich deswegen öfter mit Schuldgefühlen herum, aber anders ging es einfach nicht. Oft genug mußte sie es schlucken, daß ihre Artikel rüde verstümmelt oder auf den nächsten Tag verschoben wurden, um einem wahnsinnig dringenden Beitrag vom Schulze oder einer protzigen Todesanzeige Platz zu machen. Ebensooft war Simon das allerletzte Kind, das beim Verlassen des Kindergartens über die Eimer der Putzfrauen stolperte und seine kleinen Fußspuren auf dem feuchten Flur hinterließ.
Ein Uhr schien ihr an diesem besonderen Tag eine günstige Zeit, um Simon abzuholen. Spät genug, um den Zwölf-Uhr-Müttern zu entwischen, zu früh, um auf eine Abholerin der Zwei-Uhr-Kinder zu treffen. Die Rechnung ging auf, Flur und Garderobe waren leer.
»Mama, was ist ein Russenflittchen?« fragte Simon, als Paula ihm in den Anorak half, und im selben Atemzug: »Ist der Max jetzt im Himmel, bei meinem Schnuffi?«
»Vielleicht«, stieß Paula hervor.
»Mama«, rief Simon hell entsetzt, »kann er ihm da wieder was tun?«
Paula schüttelte den Kopf. »Nein. Max tut niemandem mehr was.«
Sie kamen ohne Zwischenfälle zu Hause an. Der Gehweg vor dem Haus war noch immer sauber gefegt, sauberer als sonst jedenfalls. die Sträucher gestutzt, das Schnittholz lag gesägt und nach dicken und dünnen Ästen sortiert auf einem Stapel neben dem Schuppen, nächstes Jahr würde es gutes Anfeuerholz abgeben. Beinahe ordentlich, dachte Paula. Nur eine Sache störte das Bild ganz empfindlich: die tote Ratte, die, ähnlich dem Gekreuzigten, über dem Kindergarteneingang, an die Schuppentür genagelt war.
Die tote Ratte vom Schuppen zu entfernen war nicht gerade eine Tätigkeit, die Paulas Laune gut bekam. Dazu fing der Schmerz in ihrem Kopf schon wieder an zu pochen. Es kostete sie große Anstrengung, für Simon und sich ein Mittagessen zu bereiten, das aus Resten vom Sonntag und einem grünen Salat bestand. Simon aß nicht viel, und Paula räumte seufzend die Teller ab.
»Simon«, bat sie. »würdest du eine Stunde leise in deinem Zimmer spielen? Mir ist heute nicht gut, ich möchte mich gerne ein bißchen hinlegen.«
Simon murrte: »Ich will aber raus.«
»Das kannst du später auch noch. Bitte.«
»Nein, ich will jetzt.«
»Wenn du draußen bist, kann ich mich nicht hinlegen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ab und zu nach dir sehen muß, außerdem kommst du sowieso alle fünf Minuten rein und willst was anderes. Geh jetzt in dein Zimmer, und wir gehen nachher zusammen raus.«
Peng! Die Tür flog zu, sie hörte ihn die Treppe hinauftrampeln, lauter als nötig. Paula folgte leise und legte sich in ihrem Zimmer aufs Bett. Schon die Berührung des kühlen Leinens auf den Schläfen war eine Wohltat. Nur ein bißchen Schlaf, dachte sie sehnsüchtig, dann geht es wieder. Aber es ging nicht. Simon heulte in seinem Zimmer. Nicht sehr laut, aber es war unmöglich, dabei einzuschlafen. Paula lief hinüber, versuchte ihm geduldig zu erklären, daß er doch nur eine kleine Weile warten sollte.
»Du kannst Kassetten hören, es stört mich nicht. Nur hör bitte auf zu weinen. Du hast keinen Grund dazu.«
»Aber mir ist langweilig!« Paula holte tief Luft. »Möchtest du Fernsehen?« fragte sie resigniert.
»Au ja.«
Sie ging ins Wohnzimmer und legte ihm die Videokassette vom Dschungelbuch ein. Ihr war jetzt jedes Mittel recht, nur um ein wenig Schlaf zu bekommen. Sie ging wieder nach oben, schloß die Augen und döste ziemlich rasch ein. Mitten in einem bewegten Traum, in dem die Mütter von heute morgen eine Rolle spielten, wurde die Tür mit lautem Krach aufgestoßen, und jemand stupste Paula an. Sie öffnete mühsam die Augen. Simon.
»Was ist denn?«
»Kann ich was Süßes haben?« fragte er in aller Unschuld. Paula sah auf die Uhr. Sie hatte gerade mal
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