Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Rothaarige in die Redaktion gerauscht und hatte behauptet, sie sei nun ein völlig neuer Mensch. »Eine andere Frisur ist wie ein Befreiungsschlag. Damit fängt beinahe ein neues Leben an«, erklärte sie Paula, wobei sie sich ein »sollten Sie auch mal versuchen, Frau Nickel« nicht verkneifen konnte.
Für Doris hat damit auch ein neues Leben angefangen, dachte Paula. Eines ohne Max.
»Schläft Simon schon?« erkundigte sich Doris.
›Ja«, schwindelte Paula. Sie war sich nicht sicher, ob Doris deswegen froh oder enttäuscht war. In letzter Zeit hatte es eher so ausgesehen, als würde sie die Gesellschaft von Kindern meiden, was durchaus verständlich gewesen wäre. »Willst du ein Glas Wein? Oder lieber Tee?«
»Wein«, sagte Doris. »Wenn du gerade einen offen hast.«
»Ich … ich trinke keinen«, erklärte Paula. »Er bekommt mir zur Zeit nicht besonders gut.«
»Aber ich darf doch?« fragte Doris und inspizierte schon das Flaschenregal neben der Küchentür. Während Doris mit geübten Fingern den Korkenzieher handhabte, überlegte Paula, ob sie von Jürgen sprechen sollte. Sie entschied sich, es zu lassen. Vielleicht würde Doris selbst davon anfangen.
Paula schnitt ein unverfängliches Thema an: »Wann fangen denn die Theaterproben wieder an? Du wirst doch mitmachen, ich meine, jetzt, wo …« Sie biß sich verlegen auf die Lippen. Himmel, schon wieder eine Stolperfälle. Warum waren ganz normale Unterhaltungen plötzlich so schwierig?
»Ich denke schon«, antwortete Doris. »Im Januar, soviel ich weiß.« Doris trug ihr Weinglas ins Wohnzimmer und setzte sich in Tante Lillis Lieblingssessel, der eigentlich Paulas Stammplatz war, wenn Lilli nicht da war. »Bin gespannt, was sich Barbara diesmal ausgesucht hat. Hoffentlich kommt sie nicht auf die Idee, an der Seite von Vito die Julia spielen zu wollen.«
»Vito.« Paula spuckte den Namen aus wie eine Fischgräte. »Er heißt Friedhelm Becker und färbt sich seine öligen Dauerwellen schwarz.«
»Aber wir brauchen ihn. Es sei denn, du sorgst für Ersatz.«
»Wenn ich jemals einen sympathischen jungen Mann aufreißen sollte, dann schleppe ich ihn ganz bestimmt nicht ins Theater, wo die kleinen geilen Hühnchen auf ihn lauern.« Mit »Hühnchen« waren die jährlich wechselnden jungen Mädchen gemeint, die sich der Theatergruppe voller Hoffnungen und Illusionen anschlossen, um sich dann beim Probenraumputzen, Kulissenbauen, Plakatkleben oder auf dem Liegesitz von Vitos Cabrio wiederzufinden, ehe sie vielleicht ein kleines Nebenröllchen spielen durften.
»Das sind ja ganz neue Töne«, stellte Doris fest. »Aber du hast recht. Ich finde, ein Liebhaber könnte dir nicht schaden.«
»Warum? Werde ich schon verschroben und wunderlich?«
»Das warst du schon immer«, sagte Doris und lächelte. »Schade übrigens, daß ich Tante Lilli nicht öfter sehen konnte. Sie ist immer so erfrischend.«
»Allerdings. Stell dir vor, jetzt hat sie einen Liebhaber der …« Mountainbike fährt, wollte sie sagen, aber irgend etwas hielt sie im letzten Augenblick zurück.
»Der was …?« fragte Doris.
»Der nur zehn Jahre jünger ist als sie«, rettete sich Paula ein wenig plump. »Ich meine … sie bessert sich. Sein Vorgänger hatte gerade das Abitur hinter sich.«
»Deine Tante ist schon in Ordnung«, sagte Doris. »Wie alt warst du eigentlich, als du zu ihr kamst?«
Paula war sicher, Doris diese Geschichte schon mal erzählt zu haben, aber offenbar suchte auch Doris nach unbelastetem Gesprächsstoff.
»Dreizehn. Tante Lilli war damals mein großes Vorbild, vielleicht, weil sie das totale Gegenteil zu meiner Mutter war. Meine Mutter trug Kleiderschürzen, roch nach Kohlsuppe, sammelte Rabattmarken und ging dreimal die Woche in die Kirche. Lilli roch nach französischem Parfum, trug hochhackige Schuhe, sammelte Liebhaber, und mit den Kirchgängen hapert es heute noch. Sie und meine Mutter waren Cousinen, so um fünf Ecken. Tante Lilli besuchte uns nach dem Tod meines Vaters in Berlin und merkte wohl, daß meine Mutter mit mir und meinen zwei Brüdern überfordert war. Wohl vor allem mit mir. Lilli schlug ihr vor, mich für eine Zeitlang zu sich zu nehmen. Ich war überglücklich, von zu Hause wegzukommen, vor allen Dingen von meinem ekelhaften Bruder Bernd, diesem Hohlkopf. So viel zur Geschwisterliebe«, seufzte Paula.
»Hat dich deine Mutter denn so einfach hergegeben?« fragte Doris.
Paula fand das Wort ›hergegeben‹ etwas unpassend, aber sie
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