Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Vaters.« Paula zuckte die Schultern und seufzte: »Sie war … sie ist schließlich seine Mutter, sie liebt ihn halt, trotz allem.«
So?« bemerkte Lilli spitz. »Du hast über das Phänomen Mutterliebe schon ganz anders gedacht.«
Paula wurde unbehaglich zumute. Was Lilli sagte, stimmte. »Wenn Max meiner wäre, ich glaube, ich würde ihn eines Tages einfach im Supermarkt stehen lassen«, hatte Paula einmal voller Überzeugung gesagt, dabei jedoch niemals ernsthaft überlegt, wie sie mit einem Kind wie Max tatsächlich fertig geworden wäre. Zum Glück war das nicht nötig. Simon zu lieben war einfach. In seinen großen, hellgrauen Augen lauerte ein spitzbübischer Charme, mit dem er schon als Baby die Menschen in seinen Bann gezogen hatte. Von sämtlichen Seiten wurde Paula bestätigt, daß sie ein außergewöhnlich liebenswertes Kind habe, bis letztendlich auch sie selbst akzeptierte, daß er möglicherweise eine Spur netter als der Durchschnitt war. Ein »Vorzeigekind« nannte Paula ihn manchmal skeptisch, denn zu Hause suchte er, wie alle Kinder, oft und gerne den Konflikt mit ihr.
Paula folgte Lilli in die Küche und hakte nochmals nach: »Selbst wenn Katharina aus irgendeinem Grund lügen sollte, dann gibt es immerhin noch weitere Zeugen, und zwar mich und den Postboten. Das hast du wohl vergessen?«
»Habe ich nicht«, erwiderte Lilli streng. »Denk mal nach. Du hast Max im Auto gesehen, als sie wegfuhren. Gut. Was hast du von ihm gesehen?«
»Na, die Haare, sein Gesicht und den Regenmantel.«
»Sein Gesicht? Hast du das deutlich gesehen? Auf die Entfernung?«
»Was weiß ich? Mein Gott, ich wußte doch nicht, daß das mal so wichtig sein könnte! Ich war an dem Morgen selber nicht so gut drauf, ich hatte am Abend vorher ein, zwei Gläser zuviel. Außerdem waren die Scheiben angelaufen.«
»Die Scheiben waren angelaufen?« bohrte Lilli mit der Hartnäckigkeit eines Bluthundes auf einer heißen Fährte. »Wieso eigentlich?«
»Weil Käferscheiben bei feuchter Witterung grundsätzlich anlaufen. Es war naßkalt an dem Morgen.«
»Sie hat doch eine Garage.«
»Sie ist eben manchmal zu faul, den Wagen abends reinzustellen, oder sie hat’s vergessen. Sag mal«, ereiferte sich Paula, »weißt du eigentlich, was du da sagst? Du verdächtigst meine beste Freundin …«
»Ich habe niemanden verdächtigt«, widersprach Lilli, »ich sage lediglich, der Zeitpunkt stimmt nicht. Nicht unbedingt. Was immer Max passiert ist, es kann auch schon einige Stunden vorher geschehen sein. In der Nacht.«
»Das ist doch nicht dein Ernst!«
»Womöglich stimmt es, daß du und der Postbote Max gesehen habt. Aber war er auch am Leben?«
»Warum sollte Doris so etwas tun?«
»Um sich mit dem Friseurbesuch ein Alibi zu verschaffen, natürlich.«
»Du denkst doch nicht wirklich, Doris würde ihr eigenes …« Paula hielt inne und schnappte nach Luft.
»Wäre doch möglich, oder? So ein Wonneproppen, wie der war. Vielleicht schützt sie aber auch jemanden.«
Die leere Tasse glitt Paula aus der Hand und fiel klirrend auf den Unterteller, der sofort in zwei Teile zerbrach.
»Aber Kind«, sagte Lilli kopfschüttelnd, »das gute Porzellan! Wir sollten aufhören mit dem Gerede, deine Nerven sind zur Zeit wirklich nicht die besten.«
Jürgen Körner verließ Maria Bronn am selben Sonntag wie Tante Lilli, die angab, es ziehe sie wieder in die Großstadt und zu ihrem Fahrradkavalier.
Gerne hätte Paula in diesen Tagen einmal mit Jürgen allein gesprochen, besonders nach Jäckles Besuch, aber Doris folgte ihm wie ein Schatten. Ob Jürgen über ihre Lügengeschichte Bescheid wußte? Ob er wohl schon wieder eine Freundin hat? Männer halten es doch selten lang alleine aus, grübelte Paula. Oder wird er zurückkommen, jetzt, wo Max fort ist?
Paula hatte gerade Simon ins Bett gebracht und überlegte, ob sie Doris zu sich einladen sollte, als es zweimal kurz an der Tür klingelte. Doris.
»Ich dachte, jetzt, wo wir beide wieder alleine sind, komme ich mal rüber«, begrüßte sie Paula. Die beiden musterten sich genauer als sonst. Doris sah unverändert hübsch aus, nur ihre Augen waren stumpfer, hatten etwas von ihrem Leuchten eingebüßt. Der kürzere Haarschnitt stand ihr gut, bildete den perfekten Rahmen für ihr makelloses Puppengesicht, in dem alles irgendwie weich und rund war.
Paula mußte in diesem Moment an Vera, die Redaktionssekretärin, denken. Diese Woche war sie, die praktizierende Blondine, ohne Vorwarnung als
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