Mordsmöwen
motzt Grey. »Ich gehe dann mal Pizza essen.«
»Das lässt du schön bleiben!«, sagt Harry drohend und fügt an uns gewandt hinzu: »Ist euch eigentlich mal aufgefallen, dass der Pizzabäcker bis über beide Ohren grinst, seit Knuts Crêpes-Stand geschlossen ist? Schaut mal rüber. Ich beobachte ihn schon die ganze Zeit. Dem scheint es nur allzu recht zu sein, dass unser Dealer verschwunden ist. Ich meine, er könnte doch genauso gut nachgeholfen haben.«
»Und Knut gezwungen haben, den Abschiedsbrief zu schreiben?«, frage ich.
»Reine Spekulation«, winkt unser Scheff ab. »Der Fall ist erledigt. Knuts Freundin hat seine Leiche in der Bauchklappe von ihrem Blechvogel versteckt und mit dem Zug von der Insel gebracht. Nun liegt er dort irgendwo verscharrt. Und wir beenden hiermit die Arbeit der Schoko-Crêpes.«
»Nur weil das Auto nicht mehr auf der Insel ist? Nichts ist erledigt, solange wir nicht Knuts Leiche gefunden haben«, rufe ich. »Außerdem fehlt Suzette noch immer. Ich werde jetzt nach Kampen fliegen und nach ihr suchen.«
Ich will schon abheben, als Harry mich zurückhält. »Warte mal, da kommt eine Brieftaube.«
Tatsächlich flattert eine Taube mit einer Möwenfeder im Schnabel über das leer stehende Schulgebäude auf der Düne hinweg und geradewegs auf uns zu. »Eilpost«, gurrt sie.
Unser Scheff tritt aufgeplustert vor. Kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass Eilpost eingeht. Dann aber fügt die Taube hinzu: »Für Ahoi, den Späher, wohnhaft auf dem Dach des Crêpes-Standes, Hörnum. Wer von euch ist Ahoi?«
»Ich«, sage ich völlig verdattert. Noch nie in meinem ganzen vierzehnjährigen Leben habe ich Post bekommen. Von einer Eilfeder ganz zu schweigen.
Die Taube überreicht mir die Feder und bleibt dann penetrant gurrend neben mir stehen. »Soll ich eine Antwort mitnehmen?« Ihr Kopfgewackel macht mich ganz nervös.
Mit dem Schnabel fahre ich quer über die Feder und ertaste dabei die unterschiedlichen Längen, um die Buchstaben zu ermitteln und zu Worten zusammenzusetzen. Augenblicke später wünsche ich mir, dass ich das nie gelernt hätte.
»Die Eilfeder ist von meiner Tante. Mein Vater ist in das Triebwerk eines fliegenden Blechvogels geraten. Tot. Ich soll umgehend nach Hause kommen. Mein Vater hat kein Testament hinterlassen, und sie will nicht, dass sich mein Bruder das Nest unter den Schnabel reißt. Sie meint, ich hätte es mehr verdient.«
»Bist du nicht auf Hallig Hooge geboren?«, fragt der Scheff.
»Ja, dort ist der Familienbrutplatz. Egal. Da will ich nichts von wissen. Soll mein Bruder das Nest haben.«
»Was redest du denn da?«, fragt Helgi, der sich sonst nur selten traut, in unserer Gruppe das Wort zu ergreifen. »Hallig Hooge, das ist doch die Topadresse im Wattenmeer. Die Weibchen werden bei dir Schlange stehen. Schutzlage, ein traumhaftes Nahrungsangebot, kaum Fressfeinde – die Brutplätze da werden doch zu Höchstpreisen gehandelt. Man zahlt ein Vermögen an Heringen dafür, und du willst das einfach in den Wind schießen?«
»Ja«, entgegne ich knapp und setze dann wegen der fragenden Blicke meiner Truppe doch zu einer Erklärung an. »Ich bin als Jugendlicher von dort weggegangen, weil ich meinen Eltern egal war. Mein erstes Nest in den Sylter Dünen habe ich mir selbst gebaut. Ich will kein Weibchen, das es nur auf ein gemachtes Nest abgesehen hat, das zudem in einem erstklassigen Brutgebiet liegt. Ich möchte eine Dauerpartnerschaft mit einem Weibchen, das mich und meinen Charakter schätzt.« Und zwar mit einer Möwe wie Suzette, füge ich in Gedanken hinzu.
»Keine Antwortfeder?«, fragt die Taube. Als ich den Kopf schüttle, flattert sie los und lässt sich beim Pizzastand nieder. Dort pickt sie mit der Geschwindigkeit eines Spechts die Krümel rund um die Stehtische vom Boden auf und scheint im Paradies angekommen zu sein.
Es ist nicht mit anzusehen, wie die sich den Bauch vollschlägt, daher wende ich meinen Blick Richtung Leuchtturm und Dünen, wo Suzettes Einflugschneise ist. In Gedanken sehe ich den wunderschönen Schwungbogen ihrer Flügel, mit denen sie Herzen in die Luft malen kann. Mich befällt eine nicht auszuhaltende Unruhe, und ich bitte unseren Scheff darum, nach Kampen fliegen zu dürfen, um nach Suzette zu suchen. Baron Silver de Luft glaubt zwar nicht, dass ihr etwas passiert ist, aber er lässt mich gewähren – unter einer Bedingung.
»Nimm Balthasar mit, vier Augen sehen mehr als zwei. Und er hat neben dir die beste
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