Mordsmöwen
Herzmuschel, aber wie kriege ich die auf?«, ruft Jonathan mit dem Ding im Schnabel.
Unser Scheff zuckt mit den Flügeln und wendet sich ratsuchend an Balthasar. Der steckt mit dem Schnabel im Sand, tut so, als wäre nichts gewesen, hüpft zurück auf den Strandkorb und nimmt seinen pantomimisch unterstützten Vortrag wieder auf – dieses Mal allerdings darauf bedacht, die Tauchbewegung nicht allzu authentisch nachzuahmen.
»Eine Strandkrabbe kann von einer Möwe leicht erbeutet werden und wird durch starkes Schütteln im Schnabel getötet, andernfalls kann die Krabbe ein Bein abwerfen, um sich aus den Fängen ihres Angreifers zu befreien … – okay, das hätten wir früher wissen müssen. So, hier steht etwas zu den Muscheln: Eine geschlossene Herzmuschel kann von einer Möwe leicht geöffnet werden, indem sie die Beute aus etwa drei Metern Höhe auf einen harten Untergrund, zum Beispiel einen asphaltierten Weg, fallen lässt. Dieses Beuteverhalten ist nicht angeboren, sondern folgt einem Trick, den bereits die Jungvögel von den Eltern erlernen … – Also, Jonathan, dann probier das mal.«
»Ich habe einen Fisch«, schreit Helgi unvermittelt. »Ich habe einen Fisch!« Nun gut, eine Makrele sieht definitiv anders aus als das kleine gelbe Ding da in seinem Schnabel, aber es ist immerhin ein guter Anfang. Nur warum ruft Helgi jetzt Aua, und warum hängt der Fisch mit einem kleinen Widerhaken an seiner Zunge?
Ich muss erst mal mühsam meine Schwertmuschel loswerden, bevor ich ihm zu Hilfe eilen kann. »Helgi«, sage ich. »Das ist ein Köder, mit dem die Menschen Fische fangen.«
»Jonathan«, ruft mein Ex-Scheff in das Chaos hinein, »du sollst die Muschel auf den Asphalt donnern und nicht sanft da ablegen! Alle Möwen zurück auf ihre Posten, so wird das nichts. Noch einmal. Wir brauchen Fische!«
»Ich habe einen«, ruft Alki und kommt von weiter draußen angeflogen. »Total hübsch und bunt.«
Ich weiß nicht, was Alki unter einem Fisch versteht, aber dieses schlaffe Ding sieht aus wie eine Art Aal, von dem allerdings nur noch die Haut übrig ist. Zudem muss es eine sehr seltene Art sein. Ein weißer Aal mit vielen kleinen Blümchen auf der Haut – solche Blümchen wie auf dem Morgenmantel von Knuts Mutter.
Es durchfährt mich siedend heiß.
Das, was da triefend aus Alkis Schnabel hängt, ist ein Stück vom Morgenmantelgürtel von Knuts Mutter. Ich erinnere mich, dass der mir schon gefehlt hat, als ich unseren Scheff nach Hörnum abschleppen wollte.
»Wo hast du das her?«
»Da hinten an der Boje, da ist in der Tiefe ein ganzer Sack voller Fische angekettet, und der hier war in diesem … wie heißt das Zum-Zumachen-Ding … eingeklemmt.«
»Schlussverreiß?«
»Ja, genau. Der Fisch war schon ganz fasrig und nur noch mit den Flossen eingeklemmt. Weil er so schön bunt ist, haben bestimmt schon andere Artgenossen versucht, ihn da rauszuziehen.«
Mir schwant etwas. »Alki, wie groß ist der Sack?«
»Schon ziemlich groß, aber länglich und unscheinbar grau. Hätte der bunte Fisch nicht rausgeschaut, wäre er mir gar nicht aufgefallen. Meint ihr, da sind fünfzig Makrelen drin?«
»Alki … so groß, dass ein Mensch reinpassen würde?«
»Ja, genau.« Seine Augen weiten sich. »Du meinst … unser Knut …«
»Ich meine, wir sollten nach Keitum fliegen und Knuts Mutter mit diesem Corpus Delicati konfrontieren.«
* * *
Wir sitzen auf dem Reetdachhaus in Keitum, bereit zum Sprung durch den Kamin, als das Klingeln unter Balthasars Flügel wieder losgeht. Es ist ja nicht so, dass während des Fluges Ruhe gewesen wäre. Es müsste echt mal ein Gesetz erlassen werden, demzufolge Handys während des Fluges ausgeschaltet werden müssen. Jedenfalls klingelt dieses Handy seit Hörnum nahezu ununterbrochen. Balthasar mimt den Unbeteiligten und pfeift ein kleines Liedchen, während er auf dem Dachfirst entlangspaziert.
Unser Scheff macht schließlich kurzen Prozess und nimmt Balthasar das nervtötende Ding ab. Dabei packt er es unwissentlich so mit dem Flügel an, dass er das Gespräch annimmt.
Eine Frauenstimme ruft aus dem Telefon: »Knut, bist du das? Ich bin’s, Eva. Habe ich dich endlich am Telefon? Knut, wo bist du? Geht’s dir gut? Sag doch was! Bitte sprich mit mir, auch wenn wir uns gestritten haben. Ich glaube nicht, dass du tot bist – du würdest dich doch niemals umbringen. Ich habe die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen … Knut?«
Wir schauen uns an, und jetzt
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