Mordsmöwen
Alki sehe ich Balthasar auf dem Dach eines Strandkorbs, Harry, Grey, Jonathan und Helgi sitzen im Halbkreis um ihn herum und hören zu, was Balthasar aus einem Buch vorliest.
Die Fragezeichen über ihren Köpfen kann ich bis hierher erkennen. Aber auch ich verstehe die Welt nicht mehr. »Warum sind denn jetzt auf einmal alle da?«
»Wir haben nachgedacht. Du hast darauf gepocht, dass wir ein Team sind, doch das sind wir nicht mehr. Aber wir sind Freunde – und die helfen sich in der Not. Das ist so etwas wie ein Notfall. Oder willst du uns jetzt im Stich lassen?«
»Nein, natürlich nicht.« Noch ziemlich verwirrt fliege ich mit Suzette hinunter zu den anderen.
Balthasar hat den Flügel erhoben und verkündet gerade mit lauter Stimme: »Möwen ernähren sich hauptsächlich von Herzmuscheln, Miesmuscheln, Strandkrabben und Fischen. Um ihre Nahrung aufzustöbern, gründeln sie wie Enten mit untergetauchtem Kopf im Flutsaum über den Meeresboden. Fische fangen sie durch das Stoßtauchen, indem sie von der Wasseroberfläche aus einen kleinen Tauchsprung ausführen. Um Fische in etwas größerer Tiefe zu erbeuten, fliegen sie etwa drei bis fünf Meter über der Wasseroberfläche, flattern über der entsprechenden Stelle, und wenn sie sich ihrer Beute sicher sind, stoßen sie in die Tiefe … – Na bitte, da haben wir es doch.«
Ich glaube, außer Balthasar hat niemand etwas verstanden. Es traut sich aber keiner nachzufragen. Geht auch gar nicht, denn Balthasar ist abgelenkt, weil es mal wieder unter seinem Flügel klingelt. Was ein Glück, dass zu Sonnenaufgang kaum Leute am Strand unterwegs sind. Nur weit hinten, an der Südspitze, sehe ich Spaziergänger um die Hörnum Odde laufen.
Ich stöhne auf. »Mach das Ding aus.«
»Ach, der Herr hat sich auch schon zu uns bequemt. Erst die Pferde scheu machen, und dann den Zirkus mitten in der Vorstellung verlassen, das hab ich gern.«
»Bitte, Balthasar«, lässt sich nun unser Scheff hören. »Kannst du dieses nervtötende Klingeln nicht abstellen?«
»Nein, kann ich nicht, weil ich noch nicht herausgefunden habe, wie das funktioniert.«
»Bitte was?« Ich fasse es nicht. »Du kannst eine Äbb installieren, hast aber keine Ahnung, wie man ans Telefon geht?«
»Wie? Du meinst, mit dem Ding kann man auch telefonieren?«
Was soll ich darauf noch sagen? Eine weitere Unterhaltung ist ohnehin hinfällig, weil das Klingeln wieder aufgehört hat.
»Seht ihr, das ist wieder eine supernützliche Äbb, falls man das Telefon mal verlegt hat. Es klingelt, und sobald man das Telefon in die Hand nimmt, hört es wieder auf zu klingeln – also, alle Möwen auf ihre Posten, Höhenmesser zwischen drei und fünf Meter über dem Meeresspiegel einstellen!«
Das klappt sogar auf Anhieb. Harry, Grey, Suzette, Alki, Helgi Jonathan und ich, wir alle kreisen in der Morgensonne über dem Wasser, hochkonzentriert, was unter uns passiert.
Okay, so weit waren wir früher auch schon mal, und wie das immer geendet hat, wissen wir ja.
Baron Silver de Luft fliegt auf halber Distanz zu unserer Truppe, um Balthasars Anweisungen weiterzugeben – und natürlich darf er sich auf diese Weise noch einmal als Scheff fühlen.
»Flattern, flattern, flattern!«, brüllt er mit Blick auf Balthasar, der seine Worte zur Sicherheit pantomimisch unterstützt. »Beute erspähen … Kopf nach unten … jetzt Flügel ausbreiten … Körper strecken … Füße strecken … Moment, was meint Balthasar? Ich soll mich einsaugen? Ah so, Luft anhalten und …«
»Ich bin noch nicht so weit«, ruft Jonathan. »Ich habe noch gar keinen Fisch erspäht.«
»Ich auch nicht«, schreit Alki.
»Egal, ihr nehmt, was ihr seht … uuuund abtauchen!«
»Aua, Papa, ich hab einen Bauchplatscher gemacht, aua!«
Harry taucht ohne Beute wieder auf, hustet, japst nach Luft und schwimmt zu seinem Sohn.
Ich kann gar nix sagen, weil ich Schnabelsperre von einer verdammten Schwertmuschel habe, die ihrem Namen alle Ehre macht und senkrecht im Schnabel steckend meinen Kiefer aufspannt.
»Ich habe eine Strandkrabbe«, ruft Suzette, in deren Schnabel ein Panzertier wie wild mit seinen Scheren fuchtelt. »Aua«, schreit sie jetzt, hält aber eisern an ihrer Beute fest und steigt damit noch mehr in meiner Achtung. Dieses Weibchen traut sich was.
»Verdammtes Mistvieh«, ruft Suzette jetzt ziemlich undamenhaft, weil sie plötzlich nur noch das Bein im Schnabel hat. Die Krabbe fällt zurück ins Meer.
»Ich habe eine
Weitere Kostenlose Bücher