Mordsmöwen
geht uns ein ganzer Kronleuchter auf. Das Smartphone, das Balthasar an jenem Abend in dem vergessenen Rucksack beim Strandkorb gefunden hat – das gehört Knut.
Wir starren auf das Gerät, aus dem noch immer die Stimme von Knuts Freundin dringt. »Lass uns doch bitte noch einmal über alles reden. Hörst du mich? Knut? Ich wollte doch nur, dass du dich behauptest, indem du zu deiner Mutter fährst und ihr sagst, dass du nicht zum Notar gehen wirst, um auf das Erbe zu verzichten, so wie sie es gern gehabt hätte. Ich kann ja verstehen, dass du dir nichts aus Geld machst … Knut, hörst du mir zu? Willst du wirklich auch auf deinen Pflichtteil verzichten? Ja, ich weiß, dass das Haus verkauft werden müsste. Wie sonst sollte dir dein Bruder zwei Millionen Euro auszahlen? Und ich kenne deine Meinung, dass deine Mutter aus ihrem Grab steigen würde, wenn das Haus verkauft wird, weil es seit dem 18. Jahrhundert in Familienbesitz ist. Aber du kannst doch so viel Geld nicht einfach in den Wind schreiben. Knut? Rede mit mir. Bitte. Meine Güte, ich mache mir solche Sorgen um dich. Abschiedsbrief hin oder her – du hast dich nicht umgebracht, das weiß ich. Wenn du deine Ruhe haben willst, wenn es aus ist zwischen uns, okay – aber dann sag es mir bitte. So ist das nicht fair. Ich wollte nur, dass du zur Vernunft kommst. Dass du nichts gegen diese Ungerechtigkeit tun wolltest, hat mich so wütend gemacht, ich wollte dir sogar das Rezept für deinen weltbesten Crêpes-Teig wegnehmen – ich hatte es schon in der Hand, aber dann ist mir bewusst geworden, wie lächerlich das ist und dass du das Rezept ohnehin auswendig kannst, also habe ich es beiseitegelegt. Das mit dem Erbverzicht ist deine Sache, ich dürfte mich da eigentlich gar nicht einmischen … aber es geht doch auch um unsere gemeinsame Zukunft? Willst du denn ewig an diesem Crêpes-Stand hängenbleiben und deinem Bruder einfach alles Geld vor die Füße legen, nur weil deine Mutter dir von Kind an beigebracht hast, dass du der ungeliebte Zwilling bist, das Kind, mit dem nicht mal die Hebamme gerechnet hat, das Kind, wegen dem deine Mutter bei der Geburt fast verblutet wäre, das Kind, für das sie nie Liebe empfinden konnte, auch wenn sie das niemals offen zugegeben hätte. Sie hat dich bei jeder Gelegenheit spüren lassen, dass du nichts wert bist. Aber musst du dir deshalb selbst nichts wert sein? Knut? Warum redest du nicht mit mir? Ich bin jetzt auf dem Autozug, ich komme zurück auf die Insel. Können wir uns bitte treffen und über alles reden? Es muss doch irgendwie weitergehen. Oder ist es wirklich aus zwischen uns? Knut – ich liebe dich doch. Herrgott, warum lässt du mich wie mit einer Wand reden? Sag doch bitte wenigstens irgendwas.«
Unser Scheff stupst Balthasar an, der vor Schreck fast vom Dach fällt. Balthasar tippt sich mit dem Flügel auf die Brust, als wolle er fragen: Ich? , und macht ein entsetztes Gesicht.
Baron Silver de Luft nickt und schubst Balthasar noch ein wenig näher an das auf dem Dachfirst liegende Telefon.
Balthasar räuspert sich.
»Knut, warst du das? Was war das für ein Geräusch? Geht es dir nicht gut?«
»Verehrteste, gnädigste Frau Eva Schatz, hier spricht die Möwe Balthasar, Mordkommissionsleiter, ich …«
Balthasar wird von unserem Protestgeschrei unterbrochen. Erstens war er niemals der Leiter unserer Schoko-Crêpes, und zweitens gibt es die Mordkommission nicht mehr. Oder jetzt doch wieder? Immerhin sind wir vollzählig versammelt.
»Jetzt haltet doch mal den Schnabel, ich rede mit Frau Schatz, und wir müssen jetzt nicht darüber diskutieren, ob es die Mordkommission noch gibt, denn darüber gibt es nichts zu diskutieren. Es kann keine formelle Neugründung geben, wenn es gar keine offizielle Auflösung gab. Es gibt die Schoko-Crêpes also noch, auch wenn es sie nicht mehr gibt.«
Wir verstehen zwar nichts von seinem Gerede, aber jeder hat seine Meinung dazu, die wir lauthals kundtun.
»Was ist denn das für ein Lärm? Das sind doch Möwen … Knut, wo bist du? Auf einem Boot? Treibst du hilflos auf dem Meer? Knut, wenn du jetzt nicht mit mir sprichst, dann gehe ich direkt zur Polizei … die können dein Handy orten.«
»Sehr gut, Frau Schatz«, ruft Balthasar, »wir zählen in diesem Fall auf Ihre Mitarbeit. Ich werde mich mit dem Handy unterm Flügel auf die Boje im Hörnumer Fahrwasser setzen – dann wird unser Knut sicher bald gefunden. Wir werden außerdem alle Beweise sammeln und
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