Mordsonate
morgen leider nicht kommen, da er gerade wieder hohes Fieber gemessen habe. Vera wünschte gute Besserung und riet ihm, sich ordentlich auszukurieren, um niemanden anzustecken.
Auch wenn sie natürlich viel lieber jetzt schon mit Erich gesprochen hätte – dass die ersten beiden Stunden ausfallen würden, bedeutete, dass sie sich morgen endlich wieder richtig ausschlafen konnte. Endlich! Sie musste Erich unbedingt bald erreichen, um ihm zu sagen, dass sie das in der Mohrstraße tun wolle. Also legte sie das Handy nicht wieder auf den Tisch zurück, sondern begann eine SMS an ihn einzutippen. Der Vorgang nahm sie sehr in Anspruch. Die Frau, deren Finger so behände über die Klaviertasten zu tanzen pflegten, stöhnte genervt auf, als sie sich wieder verschrieben hatte. Und so blickte sie nur für einen Moment irritiert vom Display ihres etwas veralteten Telefons auf, als sie hörte, wie der Schlüssel in der Tür umgedreht wurde, die so leise geöffnet und geschlossen worden war, dass sie es nicht mitbekommen hatte.
Professor Vera Stelzmann blieb vor Schreck der Mund offen, als ihr Blick auf die vermummte Gestalt fiel, die in der schwarzen Mönchskutte soeben auf sie zustürzte.
Die Überlegungen des Chefinspektors endeten immer wieder bei der Ausführung der Tat: Auch wenn er die Zeichen noch nicht zu lesen vermöge, hier musste der Schlüssel zur Lösung dieses Falles liegen. Die Brutalität, mit der die Leiche zerstückelt worden war, ließ Erich noch einmal an die kriminalpsychologische Fortbildungsveranstaltung denken, in der sie über so genannte »Gefühlsblindheit« von Menschen unterrichtet worden waren, von Menschen, die oft in der Kindheit und meistens nach einem traumatischen Erlebnis die Fähigkeit zur Empathie einbüßten. Wäre so eine Gefühlsblindheit – Erich war der Fachbegriff dafür entfallen – nicht die Voraussetzung dafür, einem zuvor getöteten Kind auf einem Hackstock die Gliedmaßen abzuhacken? Lag in der Art, es in einen Müllsack zu stecken, nicht auch eine Aussage? So etwas wie der Hinweis, dass das ermordete Klavierwunderkind letztlich nicht mehr wert sei als … irgendein Tierkadaver? All das zu tun, wäre doch einem Menschen mit halbwegs intaktem Mitgefühl unmöglich gewesen. Erich fiel jetzt noch ein, dass solche Menschen vermehrt unter psychosomatischen Schmerzen litten – aber wie sollte ihm das weiterhelfen?
Erich sehnte sich nach Vera. Vielleicht könnten sie einander heute sogar noch treffen! Er griff nach seinem Handy. Da ihres ausgeschaltet war, hinterließ er eine Liebesbotschaft auf der Mobilbox. Dann setzte er sich aufs Rad und fuhr heim – das Telefon schaltete er nicht mehr ab; er war fest davon überzeugt, dass Vera sich noch melden würde. Ansonsten wollte er vor dem Einschlafen noch einmal versuchen, sie zu erreichen.
9
Erich wurde von seinem Wecker aus einem beklemmenden Traum gerissen. Verschwitzt lag er quer in seinem Bett, fühlte sich zerschlagen und unausgeschlafen, obwohl er am Abend schon bald nach seiner Heimkehr und einem letzten vergeblichen Versuch, mit Vera zu telefonieren, über dem Gedanken eingeschlafen war, dass sie sicher auch todmüde war.
Gerädert blätterte er in den SALZBURGER NACHRICHTEN , die sich in ihrer Lokalbeilage auf einer Doppelseite sowohl mit dem Suizid des ENAG -Vorstandsdirektors als auch mit dem Fund der Leiche des Klavierwunderkindes beschäftigten und nochmals auf das Verschwinden Anja Wegers hinwiesen, an das sie Vermutungen über einen »Mozartstadt-Serienkiller« knüpften, der es auf hochbegabte Klavierschülerinnen abgesehen haben könnte, um ihnen ausgerechnet die Finger abzutrennen. Der Chefinspektor war verblüfft, dass tatsächlich noch keine Details zum Zustand der Leiche und ihrem genauen Fundort aus dem LKA gedrungen waren.
Er holte sich die nächste Tasse Kaffee und dachte an Vera. Ob sie noch schlief? Er musste sich zwingen, nicht sofort bei ihr anzurufen. Sie war nämlich der Mittelpunkt seines Traums gewesen: Vera war von einem großen schwarzen Hund mit leuchtenden weißen Augen angefallen worden, dessen Besitzerin nur gemeint hatte: »Aber wenn er doch so gern beißt! Am liebsten Klavierlehrerinnen. Er ist eh den ganzen Tag in der Wohnung eingesperrt. Soll ich ihm dann auch das noch verbieten?« Unmittelbar darauf glaubte er sie als Vortragende in dem kriminalpsychologischen Seminar zu erkennen, aber es war dann doch ein Mann gewesen, der gesagt hatte: »Sehen Sie, das istein gutes Beispiel für
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