Mordsonate
offenbar gerade erst auf den Salzachweg eingebogen war, bevor er in großen, kraftvollen Sätzen den Radfahrerverfolgt und eingeholt hatte. Sie fasste ihr Tier am Halsband und sagte keuchend: »Entschuldigen Sie bitte … Er tut Ihnen nichts! Ich wollte ihn ein bisschen laufen lassen, um die Zeit sind weniger Menschen … deshalb habe ich ihn nicht angeleint.«
»Schon gut«, murmelte Erich, der sich unschwer vorstellen konnte, dass so ein riesiger Stadtwohnungshund lostobte, wenn er abends endlich etwas Auslauf bekam. Und er dachte daran, dass wohl kein Hundebesitzer der Welt jemals sagen würde: »Nichts für ungut, aber er beißt halt für sein Leben gern. Vor allem Radfahrer.«
Frau und Hund gingen in die andere Richtung davon, und Erich hatte die Bank, die er angepeilt hatte, bald erreicht. Kaum dass er saß, war er in Gedanken wieder bei dem Fall. Nach Anjas Heimkehr und dem widerrufenen Alibi war der inzwischen verstorbene Vorstandsdirektor eigentlich als Tatverdächtiger wieder ins Zentrum gerückt. Auch wenn für den Chefinspektor die Ausführung des Verbrechens weiterhin nicht dafür sprach, dass er der Täter war. Erich hielt Weger für einen Menschen, der seine Ziele auf kürzestem Weg und mit geringstem Aufwand zu erreichen suchte. So jemand wechselte aus Opportunismus die Partei, aber hinterlegte doch keine Finger – selbst wenn er das dazugehörige Mädchen umgebracht haben sollte.
Die Tatortarbeit in dem alten Haus legte den Schluss nahe, dass der Täter mit Gefühlskälte vorgegangen sein musste, als er Finger und Beine des Kindes mit einer Holzhacke abgetrennt hatte. Gefühlskälte als Folge schwerer narzisstischer Kränkungen, die häufig in der Kindheit lagen? Über Hans Wegers Kindheit wusste der Chefinspektor rein gar nichts. Er wusste nur von dem Ausnahmezustand vor der Verhaftung, in den ihn der drohende soziale Abstieg versetzt hatte. Könnte das ausgereichthaben? Er hatte bei seinem Kampf in der ENAG auf den Erfolg seiner Tochter gesetzt … aber die allerbeste Freundin seines Kindes auf so abstoßende Art zu verstümmeln? Wenn, so wäre dies doch nur bei einem Mittäter plausibel. Einem Roland Brammer wäre zwar ausreichend Fantasie für den Einfall mit den hinterlegten Fingern zuzutrauen – vielleicht auch nur zur Irreführung der Ermittler –, aber doch nicht die Brutalität für diesen Mord?
Und Wegers Auto? Der ehemalige Autoverkäufer hätte sich doch jeden Wagen stehlen können. War ihm damit nur ein Fehler unterlaufen? Hatte Weger vorgehabt, das Mädchen für die Dauer des Wettbewerbs aus dem Verkehr zu ziehen, hatte er deshalb das alte Haus gemietet? Hatte das Kind ihn – oder das Auto – erkannt, und hatte er es deshalb umgebracht? Wie oft hatte Erich diese Frage schon hin und her gewendet! Hatte Weger Brammer als Handlanger bezahlt? Wenn ja, wofür?
Neben dem Phantombild mussten morgen schleunigst die Kontobewegungen von Brammer und Weger untersucht und die Befragungen im Umfeld von Roland Brammer hinsichtlich einer Bekanntschaft zwischen ihm und Weger in Angriff genommen werden. Seidl fehlte. Erich müsste baldigen Ersatz anfordern, auch wenn ihm dies wenig pietätvoll vorkam. Aber sie hatten auf Hochdruck zu arbeiten.
Vera Stelzmann schüttelte verwundert den Kopf. Was sich ihr Schicksal in jüngster Zeit für sie bloß alles ausdachte! Erst der grauenhafte Mord an ihrer allerbesten Klavierschülerin, der dazu führte, dass sie einen Mann kennen lernte, mit dem sie sich inzwischen sehr gut vorstellen konnte, den Rest ihres Lebens zu verbringen … und jetzt dieser Schrecken, der gut Verdrängtes in ihr wachrief, aber sie auch dazu brachte, die Erinnerung an die Trennungvon ihrem letzten Partner hinter sich zu lassen, um etwas Neues zu beginnen … und zwar schon heute Nacht!
Sie musste jetzt dringend auf die Toilette. Obwohl sie um diese Zeit gewiss noch lange nicht allein im Mozarteum sein würde, steckte sie zuerst nur den Kopf durch die Tür und sah in beiden Richtungen den menschenleeren Gang der Galerie entlang. Dann erst verließ sie ihr Zimmer, sperrte ab und lief zum Klo. Als sie danach wieder auf ihr Büro zusteuerte, hörte sie von drinnen schon ihr Handy, das sie auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Erich, Gott sei Dank! Aufgeregt sperrte sie auf und lief sofort zu ihrem Mobiltelefon – und war enttäuscht, als sich ein Student mit krächzender Stimme für den späten Anruf entschuldigte. Er müsse einen Sommergrippevirus aufgefangen haben und könne
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