Mordsonate
hinter seinem riesigen Schreibtisch bei den kleinsten Anlässen.
Gerlinde wusste, dass sie das Geschrei keinesfalls persönlich nehmen durfte, traf sie doch auf Fortbildungsseminaren nur zu oft auf Kolleginnen, die sich als lebende Mistkübel für die Launen ihrer Chefs verstanden und sich dadurch Magengeschwüre einhandelten. Für jene Tage, an denen sie das Toben kaum aushalten zu können glaubte, weil sie selber nicht so gut gelaunt und unbeschwert in ihr lichtdurchflutetes, angenehm klimatisiertes Büro getänzelt war wie heute, für solche Tage hatte sie es sich beigebracht, sich regelrecht tot zu stellen, hinter dem Schutzschild des eleganten Flachbildschirms, an dessen Rand sie ihr Maskottchen befestigt hatte. Dieses kleine, hellbraune Klammeräffchen, das Gerlinde an dem Tag geschenkt bekommen hatte, an dem sich ihr Berufsleben so dramatisch zum Besseren verändert hatte, weil ihr eine zufällige Beobachtung zu einem ungemein wertvollen Geheimnis und damit von heute auf morgen zu dem Posten der Chefsekretärin verholfen hatte – und all das war nur geschehen, weil sie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt aus einem ganz bestimmten Klofenster auf einen ganz bestimmten Parkplatz geschaut und beobachtet hatte, wie ein ganz bestimmter Mann sturzbetrunken zu seinem Auto gewankt war. Genau seit diesem Glückstag wurde Gerlinde Brunner von dem Äffchen mit unendlicher Geduld auf die immer gleiche schelmisch-verschmitzte Weise angegrinst, egal, was rundherum auch passieren mochte.
Wäre es nicht besser, einfach auch so still vor sich hin zu grinsen wie das Äffchen, statt hinter dem Bildschirm inDeckung zu gehen? Wozu betrieb sie überhaupt den ganzen Aufwand mit all den Gefühlen, wenn sie ihr in ihrem Leben bislang ohnehin so wenig genützt hatten?
Wie auch immer. Beim Anblick des Äffchens dachte Gerlinde täglich an den Mann, der es ihr mit einem bübischen Schmunzeln und der selbstironischen Bemerkung geschenkt hatte, dass er doch auch schon zu so einem Klammeräffchen geworden sei und sie, Gerlinde, nie mehr loslassen wolle. Diesen Mann nicht genommen zu haben, hielt die Frau inzwischen für den größten Fehler ihres Privatlebens. Weil sie immer mehr zu der Überzeugung gelangt war, dass es doch nichts als pure Dummheit gewesen war, die sie so lange nach dem rundum perfekten Partner hatte suchen lassen, bis sie nun als attraktive Vierzigjährige noch immer allein lebte, ohne dieses Singledasein jemals angestrebt zu haben. Im Gegenteil, Gerlinde Brunner hatte sich früher als alle ihre Freundinnen aus der Handelsakademie sehr nach einer eigenen Familie gesehnt, nach einer Familie, in der das Zusammenleben besser funktionieren sollte als in der, in die sie hineingeboren worden war. Aber während eine ihrer früheren Mitschülerinnen mittlerweile schon Großmutter war, spielte Gerlinde, wenn sie allein in ihrer Wohnung ihre Wäsche versorgte oder sich einen Imbiss zubereitete, weil sich die Kocherei für sie allein nicht auszahle, noch immer ihre Lieblingssongs aus der Zeit, als sie sechzehn, siebzehn, achtzehn war, und genehmigte sich dazu einige Gläschen eines ihrem gestiegenen Einkommen entsprechenden Rotweins, der ihr dabei half, sich beim Mitsingen der Hits aus ihrer Jugendzeit so intensiv in diese zurückzuversetzen, dass sich die Gegenwart zu verflüchtigen schien, in der Gerlinde inzwischen Jahr für Jahr mehr Geld für Faltencremes und andere Kosmetika ausgab.
All ihre nicht selten schon zum zweiten Mal verheirateten Freundinnen aus der Schulzeit, die Gerlinde bei jedem Maturatreffen offen um ihre Freiheit beneideten (auch darum, frei zu sein von den ewigen Sorgen um die Kinder), würden sich wahrscheinlich nicht vorstellen wollen, dass sich diese von ihr so nie angestrebte Freiheit längst in eine düstere leere Wohnung verwandelt hatte. Wenn sie an trostlosen Spätherbsttagen aus dem Büro heimkam, schaltete sie als Erstes den CD-Spieler oder den Fernseher ein, um diese Verlassenheit zu vertreiben. Und so war es ihr, als hielte sie mit diesem Erinnerungsstück, dem Äffchen auf dem Computerbildschirm, auch die Hoffnung aufrecht, sich diesen Weg, zu dem Mann den sie unbegreiflicherweise verschmäht hatte, doch nicht endgültig verbaut zu haben. Und die Verbindung zu dem Mann wäre erst dann endgültig gekappt, wenn sie das Klammeräffchen entfernte.
Da Gerlinde Brunner aber keine Träumerin war, war dann wohl auch das mit Hans Weger passiert, vor kaum einer Woche. Obwohl sich anfangs alles in ihr
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