Mordsonate
fest am Oberarm gepackt wurde, dass sie den Druck der Finger schmerzhaft spürte. Sie wurde von dem Mann durch den Raum geführt, bis sie mit einem Bein gegen einen Gegenstand stieß, den sie dann als Klavierhocker ertastete.
»Setz dich!«
Kaum hatte die Hand ihren Oberarm losgelassen, juckte es sie wieder am Rücken. Schnell griff das Mädchen zuerst mit der linken, dann mit der rechten Hand unter ihre Bluse und kratzte sich, so gut es ging. Sofort wurde sievon ihrem Entführer zurechtgewiesen: »Lass das! Und die Heulerei auch! Die hat noch keinem geholfen. Da haben andere schon mehr geweint – und nichts ist besser geworden. Absolut nichts!«
Birgits Hände suchten das Instrument. Der Deckel war schon hochgeklappt, die Notenblätter vorbereitet. Aber wie sollte sie denn mit verbundenen Augen vom Blatt spielen? Und womöglich noch ein ihr unbekanntes Stück … denn wenn der Mann ihre Finger weltberühmt machen wollte, würde er sie wohl filmen. Wäre das dann auf YouTube zu sehen? Um Himmels willen. So aufgeregt, wie sie war, mit der Angst … da würde sie … mein Gott, wie schlecht würde sie denn dann spielen! Was für eine Blamage! Wo der Rücken so juckte, dass sie ständig die Schultern kreisen ließ, damit sie sich zumindest am Blusenstoff reiben konnte … so konnte doch kein Mensch Klavier spielen! Wollte der Mann womöglich, dass ihre Finger deshalb weltberühmt wurden, weil sie so schlecht spielte? Weil sie sich damit vor aller Welt blamierte?
Das Mädchen schrak zusammen, und eine Gänsehaut jagte ihm über den Rücken, als es plötzlich nahe an seinem Hals die Hände des Mannes spürte. Sie steckten in Gummihandschuhen.
Peter stürzte sich in seine Arbeit, verbuchte routiniert einen Beleg nach dem anderen, um irgendwann wieder von diesem furchtbaren Gefühl der Hilflosigkeit eingeholt zu werden. Und immer war es der Umstand, absolut nichts tun zu können, der ihn schier verrückt machte. Aber jetzt blieb ihm nichts weiter, als auf den Anruf der Polizei zu warten, den er gleichermaßen herbeisehnte, wie er sich Stunde für Stunde mehr davor fürchtete. Doch alle Anrufe, die ihn erreichten, bezogen sich nur auf die Arbeit,und jedes Mal war er vor Aufregung noch mehr außer Atem, wenn er sich mit erstickter Stimme meldete. Sein Handy lag auf dem Schreibtisch und blieb stumm. Sooft er es auch anstarrte und es wie ein Kind beschwor: Ich zähle jetzt bis zwanzig … nein, vierzig … fünfzig, dann … Es half alles nichts. Der Drang, endlich über das zu sprechen, was ihn doch als Einziges beschäftigte, nahm ständig zu. Er wollte seinen Kollegen von Birgits Verschwinden erzählen, obwohl er sich in der Früh vorgenommen hatte, die Neuigkeit noch für sich zu behalten, auch deswegen, weil er sich wegen seiner Unbeherrschtheit schuldig fühlte.
Nein, er müsste etwas sagen, denn was würden sie denken, wenn sie es aus den Medien erfahren würden – die Polizei hatte bei Übernahme der Fotos von Birgit angekündigt, einen Aufruf an die Bevölkerung ergehen zu lassen.
Immer nur für ganz kurze Zeit hatte Peter den Eindruck, dass das alles doch überhaupt nicht real sei, was Anna und er jetzt durchmachten. Ganz so, als ob er bislang nicht fast täglich von solchen Vorfällen gehört und gelesen hätte – aus der Realität anderer Menschen, immer sehr weit weg vom eigenen Leben.
Jetzt, wo sie weg war, wurde ihm erst bewusst, dass es ihn nie gestört hatte, seine Tochter oft nur in der Früh und am Abend kurz zu sehen. Und es war ihm auch immer ganz recht gewesen, wenn sie an den Wochenenden ein Gutteil der wenigen Zeit, die ihr neben den Klavierstunden noch verblieben war, mit ihrer Freundin Anja und anderen Mädchen verbracht hatte. Vor allem für die beiden Einzelkinder, hatte er sich gesagt, sei es doch enorm wichtig, nicht ständig nur mit Erwachsenen zusammen zu sein. Er kannte doch aus seiner eigenen Kindheit den einen oderanderen altklugen Außenseiter, zu dem so ein Kind häufig wurde.
Peter schreckte auf, als er bemerkte, dass sein Vorgesetzter, der Leiter des Rechnungswesens, neben ihm stand. Mit dem Oberkörper leicht nach hinten gelehnt, die Papiere, deretwegen er gekommen war, direkt vor dem Bauch, wie es für den Magister Wiesinger so typisch war und weshalb er so behäbig aussah und viel älter wirkte, als er tatsächlich war. Er müsse ihn einweihen, befahl sich Peter, denn es war nicht seine Art, im Büro vor sich hin zu träumen. Und genau diesen Eindruck musste er auf seinen
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