Mordsonate
gesträubt hatte, weil das Werben dieses Mannes doch von so offenkundigen Hintergedanken und Ungereimtheiten begleitet war. Hatten sie all die Jahre, die sie als begehrenswerte Frau allein lebte, denn nicht misstrauischer gemacht, als es ihr selbst oft lieb gewesen wäre? Mit dieser Überlegung hatte sie an dem bewussten Freitag ihren eigenen Widerstand niedergerungen. Es war ihr nicht schwer gefallen, sich selbst zu besiegen. Sie war ein freier Mensch – was war schon dabei, sich von einem beeindruckend gut aussehenden Mann zu einem teuren Essen ausführen zu lassen, danach noch ein Nachtlokal aufzusuchen und sich schließlich beschwipst und in einem fort kichernd bei ihm unterzuhaken und ihn mit nach Hause zu nehmen …
Gerlinde Brunner war niemandem Rechenschaft schuldig! Und sie verhielt sich ohnehin viel zu selten so, wie es die anderen von ihr annahmen, zumal Gerlinde, die beneidenswert schlank geblieben war, ihre nach Geburten häufig in den Hüften füllig gewordenen Freundinnen, die so verbissen gegen die überzähligen Kilos kämpften, sehr wohl in diesem Glauben beließ, weil sie die Wahrheit als zu demütigend empfand und weil man ihr ohnehin nicht geglaubt hätte, dieser Karrierefrau, der alles wie von selbst in den Schoß zu fallen schien und die es darüber hinaus trotz ihrer Attraktivität auch noch geschafft hatte, sich nicht von Mann und Kindern in Ketten legen zu lassen.
Mit rasendem Herzen hörte Birgit, wie die Haustür von innen wieder versperrt wurde und sich auf knarrenden Dielen Schritte der Zimmertür näherten, durch die gleich darauf jemand mit einem raschelnden Papiersack trat. Wie … wie war der Mann jetzt hergekommen? Birgit hatte kein Auto gehört. Jedes Geräusch, das sie zuzuordnen vermochte, ließ vor ihrem geistigen Auge sofort das entsprechende Bild entstehen.
Ihre Angst nahm sogleich zu, als ihr einfiel, dass womöglich ein anderer Mann … und dass der vielleicht irgend etwas mit ihr anstellen … Birgit hatte doch schon so viel gehört … und sie waren oft genug gewarnt worden … ginge es nicht um ihre Finger … würde ganz etwas anderes –
»Da du brav warst, gibt es auch das versprochene Frühstück«, sagte die Stimme ihres Entführers halblaut und emotionslos.
Mit großer Erleichterung spürte Birgit, wie ihre Füße und Hände losgebunden und ihr danach auch die um Hand- und Fußgelenke geschnürten Fesseln abgenommenwurden. Sie massierte sich sofort die Gelenke, deren Taubheit sie nun erst bemerkte.
»Du darfst dich aufsetzen. Du weißt, dass es sinnlos ist, wenn du wegzulaufen versuchst. Und ich kann dir nur wieder raten, lass die Augenbinde droben.«
Birgit schluckte. Obwohl der Mann ziemlich leise sprach, klangen seine Worte wieder unheimlich und bedrohlich. Ihre Hände zitterten, als sie den Papiersack befühlte, den er ihr auf den Schoß gelegt hatte. Sie fasste mit zitternden Fingern hinein und ertastete eine Getränkepackung und die von der Wärme klebrig gewordene Zuckerglasur ihrer Lieblingsmehlspeise. Wie konnte der Mann wissen, dass sie am liebsten Nussschnecken … sie hatte sich gestern doch nichts wünschen dürfen … außer ihren Eltern wussten nur Anja und deren Mama davon. Und Anjas Papa, weil Herr Weger ihnen einmal ihr Lieblingsfrühstück mitgebracht hatte, als er ins Wochenendhaus nachgekommen war.
Birgit mühte sich einige Zeit vergeblich, mit ihren ungewohnt kraftlosen Fingern den Schraubverschluss zu öffnen. Als sie es endlich geschafft hatte, stand ihr Schweiß auf der Stirn, den sie nicht wegzuwischen wagte, weil ihr Entführer sonst womöglich glaubte, sie greife nach der Augenbinde. Umso mehr genoss sie den Kakao, zu dem sie die beiden frischen Nussschnecken verschlang, die sich in dem Sack befanden.
Obwohl ihre Hand- und Fußgelenke noch schmerzten, begann sie sich rasch wohler zu fühlen. Und wieder schwankte sie in ihrer Einschätzung. Ihr Entführer quälte sie, indem er sie festhielt, er versetzte sie in Angst – aber warum brachte er ihr dann ihre Lieblingsmehlspeise? Obwohl sie auf diese Frage keine Antwort fand, war sie sich auf einmal ganz sicher, schon bald wieder frei zu sein.
Aus Angst, ihn gegen sich aufzubringen, traute sich Birgit nicht, den Mann zu fragen, ob er schon bemerkt habe, dass er mit ihr das falsche Mädchen … weil es ihm doch nur um ihre Freundin Anja gehen konnte. Vor allem würde Anjas Papa jede Summe dafür bezahlen, damit die Finger seiner Tochter weltberühmt werden würden.
Nachdem sie
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