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Mordsonate

Mordsonate

Titel: Mordsonate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O. P. Zier
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leise gesagt hatte, dass sie aufs Klo müsse, wiederholte sich der Vorgang von gestern, und der Unbekannte warnte sie erneut davor, dass sie hoffentlich nicht so dumm wäre, die Augenbinde auch nur zu lockern.
    Da sie beim Gehen anfangs etwas eingeknickt und dann mit unsicheren Schritten fast gestolpert war, erlaubte ihr der Mann, nachdem sie ins Zimmer zurückgekehrt war, sich etwas die Füße zu vertreten, während er sich offenbar auf einem Stuhl niederließ, den er sich auf dem Holzboden zurechtgerückt hatte. »Du brauchst nur geradeaus zu gehen, dann fällst du nicht in die Grube. Zähl deine Schritte – ich sage dir, wann du kehrt machen sollst.«
    Vorsichtig setzte Birgit einen Fuß vor den anderen. Als sie verängstigt bis sieben gezählt hatte, bekam sie das Kommando, auf dem Stand umzudrehen und die sieben kleinen Schritte wieder zurückzugehen.
    Die Bewegung, so eingeschränkt sie auch war, tat ihr gut. Und da sie jetzt sicher war, dass sie nirgends hinunterfallen würde, nahm die Angst vor ihrem Entführer wieder etwas ab, auch wenn sie sich auf sein Verhalten und das, was er mit ihr im Schilde führen mochte, keinen Reim machen konnte. Er wollte ihr doch nicht nur Schlechtes? Denn was sollte schlecht daran sein, wenn ihre Finger weltberühmt wären? Die Finger einer jungen Pianistin! Aber er schien sehr launenhaft zu sein – einmal hörte er sich so jammernd, fast leidend an, gleich darauf wies er sie wieder barsch zurecht.
    »So, das muss erst einmal reichen«, sagte er nach einiger Zeit. »Geh geradeaus weiter, dann kannst du dich wieder aufs Bett setzen.«
    Angespannt und steif saß Birgit dann auf der Bettkante und massierte aus Verlegenheit weiter ihre Handgelenke, obwohl sie sich nicht mehr taub anfühlten. Sie lauschte auf jedes von dem Mann kommende Geräusch und wunderte sich, dass die Schlangen noch immer nicht zu hören waren. Von draußen vernahm sie wieder Vogelgezwitscher, und einmal kam ein Räuspern von ihrem Entführer, danach etwas, das fast nach einem kleinen Seufzer klang. Anschließend hörte sie nur ihren eigenen Atem und den des Unbekannten. Die Hummel, überlegte sie, war die Hummel, die gestern ständig gegen die Fensterscheibe geflogen war, schon gestorben? Oder hatte sie doch irgendein Loch entdeckt, um ins Freie zu fliegen? Was hatte der Mann jetzt nur vor? Warum redete er auf einmal nicht mehr?
    Nach längerer Zeit sagte er nachdenklich: »Wenn wir deine Finger … wenn wir sie weltberühmt machen wollen, dann … dann müssen sie es schon auch wert sein, meinst du nicht auch?«
    »Ja! Aber Papa«, entgegnete Birgit hastig, »wir … meine Eltern, die haben doch nur Schulden … Ich bin die Falsche … das ist doch Anjas Papa, der so viel verdient!«
    Birgit war froh, dass sie den Mann endlich auf seinen Irrtum hinweisen konnte, den er anscheinend doch noch nicht bemerkt hatte. »Es geht Ihnen bestimmt um Anja! Ihr Papa kann alles bezahlen. Der … er verdient sehr viel.«
    »Anja! Anja! Die ist nicht das Wunderkind … du bist es! Du allein!«
    »Aber mein Papa kann doch nichts bezahlen … Anja ist Zweite geworden, das ist doch … Sie spielt doch auch sehr gut!«
    »Gar nichts ist das!« Der Mann klang plötzlich beleidigt, sodass sie wieder Angst bekam und schwieg. »Es zählen nur die Ersten! Alle anderen sind doch nichts als … Müll! Immer schon Müll gewesen. Müll, von dem sich alle abwenden. Versager, die von ihren Müttern nicht mehr geliebt werden, sondern … verachtet. Und ausgesperrt!«
    Birgit wusste nicht, wovon ihr Entführer sprach. Anja wurde doch von ihrer Mama nicht verachtet, nur weil sie Zweite geworden war! Auch ihr Papa … gerade der Herr Weger würde wirklich alles für sein Kind tun … Birgit war völlig verwirrt, weil es der Mann offensichtlich nur auf sie abgesehen … aber Papa hat doch kein Geld, dachte sie verzweifelt. Und Oma und Opa hatten nur das kleine alte Haus, in dem sie wohnten. Wer sollte dafür bezahlen, dass ihre Finger weltberühmt werden? Birgit begann wieder zu weinen, und Tränen stauten sich unter der Augenbinde.
    »Diese Heulerei bringt nichts!« sagte die Stimme ungehalten. »Wie oft muss ich dir das denn noch sagen?«
    Birgit versuchte das Schluchzen zu unterdrücken, das darauf hin in lautes Schniefen überging.
    »Um dich geht es, Kind! Du bist es, die überall hervorgehoben wird. Du allein! Hören wir uns halt einmal an, was das Wunderkind auf dem Klavier zusammenbringt.«
    Birgit erschrak, als sie plötzlich so

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