Mordspech (German Edition)
eins. Ein alter Lada nähert sich dem Gehöft und rollt langsam aus.
»Fahrzeug Marke Shiguli dreizehnhundert«, meldet das Funkgerät.
»Ich denke, das ist ein Lada?«
»Shiguli ist Lada«, wird mir erklärt. »Ein russisches Auto. Im Export hieß es Lada. Im Ostblock blieb es beim Shiguli.«
»Ich zoome mir mal die Autonummer ran«, meint einer der Techniker.
»Macht ’ne Halterbestimmung.«
»Moment!«
Herrgott noch mal! Ich kann es nicht mehr hören, dieses »Moment«!
Der Hund, man sieht es deutlich auf Monitor eins, rennt auf das Auto zu. Eine Frau steigt aus.
»Ist sie das?«
»Keine Ahnung!«
Da ist kein Pagenschnitt, und die Frau wirkt sehr viel jünger. Höchstens fünfundvierzig.
Viel interessanter ist, wie sich der Hund verhält. Er springt freudig an der Frau hoch, ist ganz begeistert …
»Wir haben sie«, ruft Hünerbein. »Zugriff!«
»Stopp«, rufe ich aufgeregt. »Kein Zugriff!«
»Ja, was ist denn nun?« Die Stimme aus dem Funkgerät klingt ungehalten. »Entscheidet euch!«
»Was ist los, Sardsch?« Hünerbein sieht mich fragend an.
Das kann nicht sein, denke ich verblüfft. Das ist absolut unmöglich.
Alle schreien mich an. Hünerbein, das Funkgerät, die Techniker. Alle wollen zuschlagen.
»Wartet!« Ich starre wie paralysiert auf den Monitor. »Das ist nicht die Frau, die wir suchen!«
»Aber der Hund! Der Hund!«
Ja, ich sehe es. Der Hund ist ganz außer sich vor Freude. Ganz offensichtlich hat er sein Frauchen wiedergefunden.
»Mir reicht’s jetzt!« Hünerbein schnappt sich das Funkgerät. »Freigabe! Zugriff!«
»Nicht«, schreie ich entsetzt, »das ist ’ne Mutti aus dem Kinderladen …«
»Egal!« Hünerbein lässt sich nicht mehr aufhalten. »Schnappt sie euch!«
Kurz darauf ist die Straße für Sekunden in das sehr grelle weiße Licht von Blendgranaten gehüllt. Danach liegt die Frau bäuchlings auf dem Boden neben dem Shiguli, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Und auch der Hund hat sich dramatisch hingeworfen und reckt ergeben alle vier Pfoten in die Luft.
»Der Wagen ist auf eine ›Stamm‹ zugelassen«, meldet sich der Techniker in die plötzliche Stille hinein. »Stamm, Claudine, wohnhaft Birkenwerder, Havelstraße 62. Das ist hier!«
Ja. Ich sinke stumm auf meinen Stuhl und starre auf den Monitor.
Das gibt’s doch nicht.
Unsere unscheinbare Claudine. Die stille, bescheidene Spätgebärende, die sich bei den Elternabenden immer mit ihrer Stimme enthalten hat.
Unfassbar!
48 » NA, WENIGSTENS geht es dem Hund gut«, lächelt sie mich später im Vernehmungsraum unserer Dienststelle an.
Als wäre der Hund wichtig.
»Ich hatte mir schon Sorgen um ihn gemacht. Es war schrecklich für mich, ihn am Kottbusser Damm alleinzulassen. Aber was sollte ich tun?«
»Und deine Kinder«, frage ich, »was wird jetzt aus deinen Kindern?«
»Ja, die müssen natürlich abgeholt werden«, nickt Claudine Stamm und sieht auf die Uhr. »In einer Stunde. Kannst du dich darum kümmern?«
Ich starre sie fassungslos an.
Was soll ich tun? Wie soll ich damit umgehen, dass sich eine Mutter, die ich seit Jahren aus dem Kinderladen kenne, plötzlich als professionelle Mörderin erweist? Als legendäres Phantom unter Berufskillern? Als Tante Tilly!
In ihrer hübschen Wohnung fanden sich ein ganzer Kostümfundus und jede Menge Perücken von Aschgrau bis Hennarot. Dazu unzählige Latexmasken, die Claudines eher unscheinbares Gesicht zur runzligen Greisin oder zum verführerischen Vamp machen konnten – Wahnsinn: Ich hatte keine Ahnung, dass man nur mit diversen feinen Masken und etwas Schminke einen Menschen derart verändern kann. Ich stand ihr doch gegenüber. Vor Siggis Krankenzimmer im Ernst-von-Bergmann-Klinikum.
Und nie hätte ich hinter der Maske der falschen Ärztin Claudine Stamm vermuten können. Das wäre einfach unmöglich gewesen. Aber immerhin erklärt das jetzt unser Zusammentreffen kurz darauf in der Kirche Sankt Peter und Paul. Claudine musste sich einfach nur Perücke und Maske abziehen und sich ihres Arztkittels entledigen, und jede klappende Tür war spannender für mich als die mir bekannte Mutti aus dem Kinderladen. Ich bin einem Phantom nachgejagt, während Tante Tilly längst vor mir stand. Verrückt ist das. Und faszinierend auch.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, um sie zu befragen. Es kann sich nur um Minuten handeln, bis Goerdeler und Paulsen auftauchen, um mir den Fall wieder abzunehmen. Und in dieser Zeit muss ich so viel
Weitere Kostenlose Bücher