Mordspech (German Edition)
in Rinnsteinen und Gullis und pladderte so laut auf das Dach der Telefonzelle am Adenauerplatz, dass sich Tante Tilly ein Ohr zuhalten musste, um ihren Auftraggeber zu verstehen. Er war alles andere als zufrieden.
»So hatten wir uns das nicht vorgestellt«, monierte er. »Was ist los mit Ihnen? Wir wollten kein Aufsehen. Und was haben wir? Ein riesiges Polizeiaufgebot und ein völlig unbeteiligtes Opfer.«
Was sollte Tante Tilly dazu sagen? Manchmal wird aus einem sauberen ein schmutziger Job. Seltene Zufälle sind das, aber sie kommen vor. Ärgerlich und nicht zu vermeiden.
Der Plan jedenfalls war gut und präzise ausgearbeitet. Das Ziel war jeden Morgen pünktlich in seinem Büro und öffnete als Erstes die Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Um es – also das Ziel – ins Fadenkreuz zu bekommen, musste man nur anrufen. Das Telefon war immer im Schussfeld, und das Ziel als Journalist beruflich daran gebunden, jeden Anruf anzunehmen. Jeden! Das hatte Tante Tilly lange gecheckt. Klingelte das Telefon, ging das Ziel ran. Und das Telefon auf dem Schreibtisch hinter dem geöffneten Fenster im Parterre war stets im Visier. Man brauchte nur anzurufen, warten, bis das Ziel den Hörer nahm, und dann: Baff!
Dass einem dabei plötzlich ein Fahrradbote in die Schusslinie geradelt kam, war unvorhersehbar. Pech, sozusagen. So etwas ist nicht schön, aber ein Profi muss auf alles gefasst sein.
Tante Tilly hatte zügig ihre Präzisionswaffe zusammengeklappt, Lauf und Dreibein abgeschraubt und alles sorgfältig in den eigens dafür präparierten Sportrucksack gepackt. Waffen muss man behutsam behandeln. Jedes Teil hatte sein eigenes Fach im City Bag. Besonderes Augenmerk bekam wie immer das Präzisionsfernrohr mit der Zieloptik. Es wurde in Samt eingeschlagen und kam in eine stoßfeste Seitentasche, damit es beim Transport durch die Stadt keinen Schaden nahm.
Tante Tilly warf noch einen Blick durch das Dachfenster. Binnen kürzester Zeit hatten sich in der Belziger Straße aufgeregte Passanten um den toten Fahrradkurier versammelt. Einige telefonierten aufgeregt mit ihren Handys. Und wie immer, wenn man sie nicht brauchte, waren auch sofort Streifenwagen zur Stelle. Zwei blutjunge Polizisten drängten die Leute zurück, einer sprach hektisch in sein Funkgerät. Ein zweiter Streifenwagen stoppte und ein dritter. So, als wären just an diesem Morgen sämtliche Polizeiautos der Stadt in unmittelbarer Nähe des Rathauses Schöneberg unterwegs gewesen.
Nun hieß es: improvisieren. Denn das eigentliche Ziel lebte ja noch, der Auftrag war noch nicht erfüllt. Und Tante Tilly lebte von ihrem Ruf, Jobs auch unter widrigsten Umständen zu erledigen. Selbst, wenn es dabei schmutzig wurde.
Faktencheck: zu viel Polizei vor Ort. Das machte die Sache schwierig. Ein Vorteil war die Verwirrung, die dort unten herrschte. Anders als Tante Tilly wussten die Bullen nicht, was vor sich ging, und diesen Umstand galt es zu nutzen. Und zwar sofort!
Der Blick in den Spiegel zeigte eine unauffällige Mittvierzigerin mit einem Dutt. Etwas zu unscheinbar, wie Tante Tilly fand. Sie öffnete den Dutt, das Haar fiel ihr über die Schultern, und wechselte die Maske. Latex, wie sie Schauspieler benutzen. Tante Tilly besaß Dutzende solcher Masken. Alle selbst gefertigt, wozu hatte sie schließlich Maskenbildnerin gelernt? Sie wählte eine Maske, die sie mindestens zwanzig Jahre älter machte, und tat noch etwas Rouge auf, Kajal für die Augen und einen dezenten Lippenstift. Mit einem Spray färbte sie sich anschließend auch das Haar grauer und prüfte das Ergebnis im Spiegel. Schon besser. Tante Tilly öffnete ihren Mantel, legte sich einen Seidenschal locker um den Hals, und schon war aus der unscheinbaren Mittvierzigerin eine selbstbewusste ältere Dame von dezenter Eleganz geworden, die durchaus mit jungen Streifenpolizisten umzugehen verstand.
»Geht es Ihnen gut? Zeigen Sie mir Ihre Augen! Bleiben Sie professionell!« So nahm sich Tante Tilly die aufgeregten Beamten am Tatort vor. »Kümmern Sie sich um die Passanten und sperren Sie den Tatort weitläufiger ab, damit die Ermittler ihre Arbeit tun können. Haben Sie die Spurensicherung verständigt? Die Mordkommission? – Gut!«
Niemand fragte, wer sie war. Im Gegenteil, die jungen Polizisten waren froh, dass es sie gab. Eine Autorität, die wusste, was zu tun war.
»Und achten Sie darauf, dass keine Fotos vom Toten geschossen werden. Danke!«
Vereinfacht wurde das Problem vor allem
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