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Mordspech (German Edition)

Mordspech (German Edition)

Titel: Mordspech (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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derselben Truppe gewesen war wie sie selbst. Dass es mit denselben Geschichten aufgewachsen war. Mythen, in denen Bolschewiki den Stahl für die Revolution härteten, in denen internationale Brigadisten gegen die Franco-Generäle kämpften und mutige Antifaschisten heimlich Flugblätter gegen die Nazis verteilten.
    All diesen Helden war eines gemein: Sie waren unbeugsam. Selbst unter grausamster Folter blieben sie standhaft. Sie verrieten weder Pläne noch Kameraden, und noch im Angesicht des Todes riefen sie tapfer ihre Parolen vor den Erschießungskommandos der Faschisten.
    »Es lebe der Marxismus-Leninismus! – Nieder mit dem Krieg! – Alle Macht dem Volke! – Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
    Man hörte diese Geschichten schon im Kindergarten, sie wurden in der Schule erzählt und auf den Agitpropveranstaltungen der Thälmann-Pioniere und der FDJ . Wer in der DDR aufgewachsen war und sich berufen fühlte, als Kundschafter des Friedens der Verteidigung des sozialistischen Gemeinwesens zu dienen, der sog diese Mythen in sich auf. Und nie würde er Informationen preisgeben. Auch wenn man ihm in die Beine schoss und in den Bauch.
    Es war so gut wie sicher, dass er Tante Tilly in die Wüste schicken würde. Irgendwohin mit einer vermeintlichen Information, die keine war. Dass er ihr irgendwas erzählen würde, nur um davonzukommen.
    Sie stand, in einen Ganzkörper-Overall gehüllt und das Haar sorgsam unter einer Kapuze verborgen, vor einem fremden Bücherregal in einem fremden Wohnzimmer und wusste, dass sie den Roman nicht finden würde. Ein Paperback sollte es sein, »Die Liebenden von Saint Croix«, knapp dreihundert Seiten lang.
    Alles Fake . Der Roman war nicht da. Nichts anderes hatte Tante Tilly erwartet. Und deshalb hatte sie ihr Ziel auch leben lassen. Wie es sich gemüht hatte, den Tod vorzutäuschen. Wie es angespannt dem Klicken des Kammerstängels gelauscht hatte, um sich rechtzeitig vor dem finalen Schuss in den See zu werfen. Fast drollig war das gewesen, rührend sogar. Dabei kann man den Kammerstängel auch sehr sachte einrasten lassen. Mit etwas Übung und gut geölt ist das sogar lautlos möglich. Dann hört man absolut nichts.
    Doch Tante Tilly hatte es klacken lassen. Laut und vernehmlich. Weil sie wusste, dass sie belogen wurde. Weil sie ihr Ziel noch lebend brauchte. Weil sie wiederkommen musste, um endlich die Wahrheit zu erfahren.
    Der Hund machte Probleme. Er wollte mitkommen. Unbedingt. Wenn Tante Tilly das Haus ohne ihn verließ, fing er an zu kläffen und zu jaulen. Herzerweichend, kaum auszuhalten. Und viel zu auffällig. Schon einmal war die Nachbarin heruntergekommen.
    »Sie sind doch nicht etwa auf den Hund gekommen? Geht das denn mit den Kindern? Das ist immerhin ein ziemlich kräftiges Tier, nicht wahr? Möglicherweise gefährlich, oder? Wissen Sie, ich hab nichts gegen scharfe Hunde, die passen wenigstens auf. In diesen Zeiten weiß man ja nie, nicht wahr? Aber wenn man Kinder hat …«
    »Ich hab ihn nur zur Pflege«, hatte Tante Tilly erwidert. Und spätestens da war ihr klar geworden, dass es mit dem Hund nicht ging. Er folgte ihr auf Schritt und Tritt.
    Selbst als sie nach dem Roman suchte, war er dabei. Sie hatte alles versucht, wirklich. Aber sie wurde das Tier nicht los. Als sie ihn auf der Straße anbinden wollte, machte er ein solches Theater, dass alle Leute guckten. Da hätte sie auch mit einer Blaskapelle durch die Stadt ziehen können, das wäre nicht auffälliger gewesen. Sie musste ihn mit in die fremde Wohnung nehmen, damit er endlich Ruhe gab. Ein Wahnsinn, das alles: Wozu legte sie sich einen Ganzkörperoverall an und achtete sorgsam darauf, keinerlei Einbruchsspuren zu hinterlassen, wenn der Hund überall neugierig schnupperte und dabei Speichel- und Fellreste hinterließ?
    Kurz: Das Vieh musste weg, und zwar endgültig, alles andere war zu gefährlich. Aber wohin mit dem Hund?
    Erschießen und irgendwo im Wald verscharren? Das brachte Tante Tilly nicht übers Herz.
    Dann gab es noch das Tierheim in Lankwitz, aber da musste man seine Personalien hinterlassen. Besser wäre es, wenn jemand anderes den Hund zum Tierheim brächte. Doch dafür musste ihn erst mal jemand finden.
    Es war eine der schlimmsten Nächte für Tante Tilly. Sie hatte den Hund gegen Mitternacht aus der Wohnung gelockt. Er war begeistert, dachte, es ginge zum Spielen. Doch Tante Tilly wollte diesmal keine Stöckchen werfen.
    Sie setzte das Tier in ihren alten Shiguli, den sie

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