Mordspech (German Edition)
noch alles kontrollieren, und zittert am ganzen Leib. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er an die Decke.
Mein Gott! Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, habe ich Mitleid mit dem alten Stasihaudegen. Sie haben ihm übel mitgespielt. Sehr übel.
»Mensch, Siggi«, ich setze mich zu ihm ans Bett, »was machste denn für Sachen?«
»Ich weiß nicht, wo es ist«, flüstert er schlotternd, und aus seinem Mund sprudelt Blut. »Ich weiß wirklich nicht, wo es ist. Bitte, glauben Sie mir, ich weiß es nicht …«
Das sieht wirklich nicht gut aus, denke ich noch, als plötzlich ein Monitor lospiept. Und dann noch einer. Und noch einer. – Alarm!
Plötzlich ist das Zimmer voll von Krankenschwestern und Ärzten. Hektisch bemühen sie sich um Siggi.
»Er kollabiert«, ruft einer, und ein anderer: »Stabilisieren! Not- OP ! Schnell!«
Auch Susanne Baier kommt herein und starrt fassungslos auf Siggi. »Was ist mit ihm?«
Wir machen die Tür frei, weil die Ärzte und Schwestern das Bett mit Siggi schwungvoll aus dem Zimmer schieben und dann in einem Affenzahn den Gang hinunterrennen.
»Die Ärztin«, entfährt es mir. Plötzlich weiß ich, wo ich die Frau schon mal gesehen habe. Vor dem Haus in der Belziger Straße. Als Kawelka die Leiche des Fahrradkuriers fotografieren wollte. Der Inge-Meysel-Typ vom, wie ich annahm, Polizeipsychologischen Dienst.
Susanne Baier sieht mich fragend an.
»Das war keine Ärztin!« Ich stürme drauflos, ebenfalls den Gang hinunter, überhole Siggis Bahre noch vor dem OP -Raum und schaue mich bei den Fahrstühlen um. Einer fährt gerade in die Tiefe. Das wird sie sein. Ich hechte die Treppen hinunter, nehme immer drei, vier Stufen auf einmal und überschlage mich fast, als ich unten ankomme. Auch der Fahrstuhl ist da, aber leer. Aufmerksam sehe ich mich um. Das Foyer des Krankenhauses ist um diese Zeit gut besucht. Ärzte, Patienten und Krankenpfleger wuseln unübersichtlich durcheinander wie in einem Ameisenhaufen.
Und trotzdem sehe ich den grauen Pagenkopf der falschen Ärztin. Sie hat den Ausgang fast erreicht.
»Halt!« Ich renne wieder los. »Stehenbleiben! Polizei!«
Natürlich bleibt sie nicht stehen. Das macht keiner. Insofern ist der Ruf »Stehen bleiben!« immer kontraproduktiv. Ich weiß das, seit ich vor fast fünfundzwanzig Jahren das erste Mal einem mutmaßlichen Delinquenten »Stehenbleiben!« hinterherrief – auch er tat das Gegenteil und rannte wie von der Tarantel gestochen davon –, und tue es dennoch immer wieder. Weil das so in den Dienstvorschriften steht. Es gibt nichts Höheres für einen Beamten als Dienstvorschriften. Im Falle »Stehenbleiben!« halten sie dich jedenfalls schön in Bewegung. Andere gehen ins Fitnesscenter, wir brüllen »Stehenbleiben!« und rennen drauflos.
Für eine ältere Dame ist der Pagenschnitt recht sportlich unterwegs. Ich komme kaum nach, aber auch ich bin ja nicht mehr der Jüngste. Wir rennen an der französischen Kirche vorbei über den Bassinplatz mit dem Sowjetischen Ehrenmal und den vielen Gräbern aus dem Zweiten Weltkrieg. Dahinter kommt der weitläufige Potsdamer Cityparkplatz mit den containerartigen Imbissbuden und einer öffentlichen Toilette. Zwischen Reisebussen und japanischen Touristen gewinnt der Pagenschnitt zunehmend Abstand und verschwindet hinter der Kirche Sankt Peter und Paul.
Mist. Ich stoppe keuchend und drehe mich tänzelnd einmal um die eigene Achse. Wo verdammt ist die Frau hin?
Mein Blick wandert die Brandenburger Straße hinunter. Sie ist Potsdams Flaniermeile, ein Boulevard, knapp einen Kilometer lang, mit zahlreichen Geschäften, Restaurants, Cafés und Banken. Entsprechend viele Passanten und Touristen sind unterwegs. Von einem eiligen Pagenschnitt ist jedoch nichts zu sehen.
Was ist mit der Kirche? Sie hat ein schmiedeeisernes Gatter vor dem Haupteingang, das leise quietschend hin- und herschwingt. So als wäre da gerade jemand durchgelaufen. Und klappt nicht auch gerade knarrend das schwere Holztor ins Schloss? Ich gehe darauf zu, lausche an der Kirchentür. Vorsicht ist angesagt. Immerhin bin ich einer mutmaßlichen Killerin auf den Fersen. Die wird nicht lange fackeln, wenn sie in Bedrängnis gerät. Was ist, wenn sie mich hinter dieser Tür mit ihrer Drahtschlinge erwartet? Ich möchte hier nicht enden wie Kawelka. Was, wenn sie eine Schusswaffe dabei hat? Ich dagegen bin völlig unbewaffnet und habe nicht mal ein Taschenmesserchen in meiner Hosentasche.
Soll ich Verstärkung rufen? Ein
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