Mordspech (German Edition)
derselben Situation nicht mehr zu versagen. Wir lernen aus unseren Fehlern. Und um zu lernen, musste man Fehler machen dürfen. Mussten Fehler als Chance begriffen und verziehen werden.
All das kam nicht mehr vor. Die Medien, der Zeitgeist und die Werbung gaukelten eine Scheinwelt vor, in der alles und jeder fehlerlos und ohne Makel funktionierte. Eine Scheinwelt, die immer mehr zum Ideal erhoben und zur Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben gemacht wurde. Wer versuchte, sich daran zu halten, landete irgendwann auf Susanne Baiers Stuhl. So war es immer. Die Leute verdrängten ihre Ängste, ihre Fehler, ihr Versagen. Sie lernten nicht mehr daraus. Sie scheiterten an einer Scheinwirklichkeit. Und dann wurden sie krank.
Zitternd schloss die Psychologin ihren Wagen auf und setzte sich hinein. Sie war außer sich, vollkommen aus ihrer Mitte.
Dass dieser Meyer wirklich verfolgt werden könnte, daran hatte sie nie im Traum gedacht. Und nun das: ein Mann mit zerschossenen Beinen und einem Loch im Bauch. Halb tot in ihrem Garten. Gefoltert von einem Killer.
Das warf alles über den Haufen. In Bezug auf den Patienten Meyer war der ganze Ansatz falsch gewesen. Gab es überhaupt eine erfolgversprechende psychologische Analyse für so einen Fall? Susanne Baier wusste es nicht. Zweifellos hatte sie versagt, auf ganzer Linie. Sie hatte versagt, weil sie von falschen Annahmen ausgegangen und zu routiniert an die Sache herangegangen war. Weil sie sich von Erfahrungswerten hatte leiten lassen, die es so gar nicht gab.
Und was lernte sie nun daraus? War sie auch in Gefahr? Weil sie den Meyer kannte? Weil er ihr Patient war?
Nein, Susanne Baier hatte keine Angst, weil sie bei diesem Patienten komplett danebengelegen hatte. Solche Fehler konnten vorkommen.
Sie hatte Angst, weil sie das Böse spürte. Das wahre Böse, das eben keine Einbildung ihres Patienten war, sondern auf sehr aufdringliche Weise real. Susanne Baier fürchtete um ihr Leben.
Plötzlich war Siegbert Meyer kein normaler Patient mehr, sondern ein Orakel. Was er sagte, war wahr. Dieser Mann hatte die Hölle durchlebt. Gab es überhaupt etwas, das sich mit dieser Erfahrung messen ließ?
Ihr erster Gedanke war die Polizei. Doch den Vorschlag hatte der Patient Meyer so heftig verworfen, dass sie erschrak. Seiner Meinung nach war die Führungsebene der Polizei von den Tätern, dem Bösen, regelrecht durchdrungen. Wie alles in diesem Land. Die zivilen Gesellschaften in Europa, so hatte Meyer behauptet, waren von skrupellosen Geschäftemachern gekapert worden, von den Kraken des Geldes, von der Gier nach mehr. Meyer musste es wissen, er hatte sie durchlebt, die Abgründe, die Begegnung mit dem Teufel und dem Tod.
Reiß dich zusammen, schalt sie sich und startete den Wagen. Dreh jetzt bitte nicht durch! Halte dich an die Abmachung!
Meyer hatte einen Namen genannt. Wenn Susanne Baier unbedingt die Polizei einschalten wolle, müsse sie nach Berlin. Nur dort gäbe es einen einzigen Kriminalbeamten, dem man trauen könne. Der zwar die Weltzusammenhänge auch nicht vollständig überblicke und ein typischer Mitläufer unserer Zeit sei, aber anständig. Sein Name: Hans Dieter Knoop.
Der sei unbestechlich, hatte Meyer betont, der könne vielleicht helfen. Knoop, Hans Dieter, LKA eins in der Berliner Keithstraße. Vermutlich hatten sie ihn da schon kaltgestellt. Wenn nicht, habe man vielleicht noch eine Chance.
Also los! Susanne Baier gab Gas und fuhr mit durchdrehenden Reifen vom Hof.
Vermutlich hatte Meyer recht, überlegte sie, als sie mit überhöhter Geschwindigkeit aus Potsdam raus und über die Autobahn Richtung AVUS raste. Man konnte niemandem mehr trauen. Diese Welt war eine einzige Verschwörung, und wer dagegen aufbegehrte, wurde vernichtet. Hinter allem steckte ein finsteres, menschenverachtendes, einzig auf finanziellen Gewinn orientiertes System. Deshalb wurden immer mehr Leute psychisch krank, deshalb wurden die Wartezimmer in ihrer Praxis jeden Tag voller. Weil es immer mehr Opfer gab. Eine elitäre Clique beherrschte die Menschheit und formte sie zu ihrem Werkzeug. Wer irgendwann nicht mehr konnte, blieb zurück. Wer dagegen aufbegehrte, wurde in letzter Konsequenz umgebracht.
Susanne Baier öffnete das Schiebedach und drehte das Autoradio voll auf. Anders war das nicht auszuhalten. Der Fahrtwind griff in ihr Haar, zerzauste es, und im Radio flehte Gwen Stefani ihren Freund an, endlich mal den Mund zu halten: »Don’t Speak!« Der Megahit der
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