Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
ein Selbstmörder direkt an einem Weg erhängen, an dem er mit hundertprozentiger Sicherheit von Spaziergängern oder den nachts sich in der Nähe tummelnden Homosexuellen gefunden werden muss? Solch makabre Späße pflegen Suizidenten nicht zu machen. Viel näher liegt, dassder Tote schon zu Lebzeiten aus irgendeinem Grund keine Papiere bei sich trug. Oder dass jemand sie ihm wegnahm. Nicht einmal eine Fahrkarte oder der berühmte Quittungszettel aus der Reinigung oder einem Fotoladen finden sich in der Kleidung. Stattdessen ziehen die Polizisten aus der linken hinteren Hosentasche der Leiche drei Telefonkarten, eine im Wert von sechs und zwei zu zwölf DM hervor. In der vorderen rechten Tasche finden sich 6,69 DM Kleingeld. Seltsam, dass ein Mensch in Markenklamotten nur so wenig Geld bei sich trägt.
Doch auch die Suche auf dem Waldboden ergibt nichts Weiteres. Etwa hundert Meter entfernt liegt allerdings ein zerrissenes Schreiben, in dem ein »Kündigungsrückzug« für einen Fitnessklub ausgefüllt ist. Die darauf angegebene Adresse führt zu einem türkischstämmigen Berliner, der in Neukölln wohnt. Als ein Schutzpolizist dort abends um sieben Uhr klingelt, öffnet der putzmuntere Verfasser des Briefes, ein neunundzwanzig Jahre alter Schlosser, die Tür. Er kann nicht der Tote von der Grunewald-Eiche sein. Als Täter kommt er auch nicht infrage, denn bei einem Selbstmord gibt es keinen lebenden Täter.
Wenig später ruft der unerwartet Besuchte allerdings bei der Polizei an und fragt nach, worum es überhaupt gegangen sei. Das wiederum wundert die Ermittler, und er wird ins Präsidium bestellt, wo der Berliner Türke nun ausführlicher befragt wird. Wie der Brief in den Wald gekommen ist, weiß er aber »nicht genau«. Allerdings will er im Juli und im August »öfter mal auf der Autobahn dort entlanggefahren« sein: »Ich war auch ab und zu mal am Wannsee im Bereich des S-Bahnhofs Wannsee. Und ich habe mit einer Freundin eine Bootstour gemacht. Die tote Person auf dem Foto hier kenne ich nicht.«
Für den mittlerweile grob errechneten Todeszeitpunkt des Unbekannten hat er Alibis: Er war mit einem Cousin und Freunden bis weit in die Nacht unterwegs. So weit, so gut. Warum der Brief aus dem Auto von der Autobahn in den Wald wehen sollte, bleibt zwar unklar. Aber möglich ist alles.
Das Seil
Am Tag des Leichenfundes beschreibt die Kripo das Seil wie folgt: acht Millimeter breit, aus Kunststofffasern gedrillt, am Hals der Leiche mit »einer Art Henkersknoten mit sechsfacher Umschlingung« geknüpft. Ein interessanter Knoten also, der bei Selbstmorden fast nie auftaucht – erst recht nicht in sechsfacher Umschlingung. Profis wickeln gern sieben-, neun- oder zwölfmal. Aber auch das kann man nicht zu kleinlich sehen, denn es handelt sich ja schließlich um einen Selbstmord.
Am nächsten Tag, dem 30. September, finden sich »zwischen Zaun und Eiche« – also unter dem Ast, an dem der Tote hing – Reste des Strangmaterials: vier Seilstücke von jeweils etwa einem halben Meter Länge.
Vier
Stücke? Ja, vier Stücke.
Am Ast findet sich außerdem eine Einkerbung in der Baumrinde. Die Polizisten folgern, dass dort wohl das Seil entlanggeführt war. Beim Abschneiden der Leiche hatte die Feuerwehr die Stelle nicht markiert, aber der Abdruck in der Rinde ist nicht zu übersehen.
Abb. 48: Kniffelig zu knüpfen: ein echter Henkersknoten. Der Programmierer Lars-Oliver Petroll soll im Grunewald nachts einen solchen gemacht und – ohne Messer – zurechtgestutzt haben. (Grafik: L. Fuß/M. Benecke)
Obwohl vieles für einen Selbstmord spricht, entscheidet die Kripo am 1. Oktober goldrichtig: »Es wird von hier aus eine Obduktion angeregt, da aufgrund der Auffindesituation der Leiche ein Fremdverschulden nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.«
Am 4. Oktober, fünf Tage nach dem Leichenfund, wird der Tote rechtsmedizinisch untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass der Tod wirklich durch Erhängen bewirkt wurde und »Spuren für eine Fremdeinwirkung beziehungsweise andere Verletzungen nicht vorhanden waren«. Drogen, Alkohol oder Medikamente hatte der unbekannte Tote nicht eingenommen.
Am 10. Oktober schließt die Staatsanwaltschaft die Akte – ein weiterer Freitoter in der Reihe der über fünfhundert Berliner, die sich jedes Jahr selbst ums Leben bringen.
Ein toter Programmierer und viele untote Interessierte
Vor dem spurlosen Verschwinden des Programmierers Lars-Oliver Petroll erhielt dessen Vater
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