Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
niemand, warum Lars-Oliver Petroll im Jahr 2001 erhängt an einem Baum im Grunewald aufgefunden wurde. Oder jemand weiß es, wird aber gewiss niemals die Wahrheit erzählen. Entscheiden Sie selbst, welcher Version Sie glauben möchten oder können: Mord oder Selbstmord?
Zählen Sie dabei bitte nicht allzu sehr auf mich, den Autor. Denn obwohl ich bei der Fallnachstellung in einem Seil an derselben Stelle wie der Tote hing, bin ich bis heute nicht sicher, wie ich als Richter entscheiden würde. Dass es dabei nicht nur um einen toten Software-Programmierer, sondern auch um einen der größten Betrugsfälle der deutschen Geschichte geht, macht die Sache nicht einfacher. Aber interessanter…
Eine überordentliche Leiche
Am Morgen des 29. September 2001 radelt ein Rentner auf der Suche nach Pilzen durch den Grunewald. An einem recht breiten Spazierweg, nicht weit von der Berliner Avus entfernt, findet er an einer Eiche hängend eine Person. Er ruft per Handy die Polizei. Bis zum Eintreffen von Feuerwehr und Kriminalpolizei hat er zwanzig Minuten Zeit, sich die Sache genauer anzusehen.
Die schöne Eiche ragt gut fünfzehn Meter in die Höhe; der Ast, an dem die Leiche hängt, ist etwa zwölf Meter lang und führt waagerecht, etwa drei Meter über dem Waldboden, vom Baumstamm weg.
Merkwürdig ist, dass die Füße der Leiche mitten in einem sauber aufgeschichteten, hohl gestapelten Holzgebilde hängen. Es handelt sich um eine Art Hohlpyramide. Unten wurden Birkenstämmchen im Quadrat versetzt aufeinandergelegt, während sich die Öffnung der Konstruktion nach oben hin verengt und dort dreieckig ist. Das ganze Gebilde ist etwa fünfundachtzig Zentimeter hoch, und die Füße des Toten befinden sich nur etwa vierzig Zentimeter über dem Boden. Das bedeutet, dass die Leiche tief in die Öffnung hineinhängt.
Abb. 46: Der Wald, in dem Lars-Oliver Petroll erhängt aufgefunden wurde, ist recht offen und wird von breiten Wegen durchzogen. Direkt an einem dieser Wege, an dem sich nachts auch Pärchen tummeln, soll Petroll sich getötet haben. (Foto: M. Benecke)
Wie ist es da möglich, dass die Holzteile so ordentlich aufeinanderliegen? Sterbende Erhängte treten oft reflexartig mit den Beinen aus. Dabei hätten mehrere der Scheite herabfallen müssen. Wurde der Tote also in die Schlinge gelegt, dann am Baum hochgezogen und zuletzt mit dem Holz gleichsam umbaut?
Wohl nicht: Die Leiche hat Schmutz an den Händen, was nach Meinung der Tatortbeamten »durch das Aufstapeln des Holzes hervorgerufen« wurde.
Als die Feuerwehr den Toten vom Baum schneidet, belassen sie den Strick am Hals. Das ist kriminalistisch und rechtsmedizinisch gewünscht. Denn anders ist weder festzustellen, um welche Art Knoten es sich gehandelt hat, noch lässt sichentscheiden, ob die Verletzung des Halses durch das Seil – die Strangmarke – mit dem aufgefundenen Seil und Knoten übereinstimmt. (Das Seil könnte ja von einem Täter auch nachträglich um den Hals gelegt worden sein.)
Abb. 47: Der eigentümliche Stapel, in dem die Leiche des Programmierers Lars-Oliver Petroll im Jahr 2001 hing. Hier bei der Tatort-Nachstellung im Jahr 2003. (Foto: S. Reibe/M. Benecke)
Auch das Seilstück, das sich noch am Ast befindet, schneiden die Feuerwehrleute ab.
Die Kriminalpolizei macht sechs leider nicht sehr aussagekräftige Fotos und beginnt mit der Beschreibung des Fundorts. Im Wald ist das keine leichte Aufgabe, denn wer weiß schon, was hinterher für die Ermittlungen wichtig sein wird? Die Blätter? Das Holzgebilde? Der Strick? Der nahe gelegene Jägerzaun? Nichts davon? Vermutlich nichts davon, denn alles sieht nach Selbstmord aus, und in solchen Fällen werden die Ermittlungen sehr schnell beendet.
Die Leiche ist sehr ordentlich gekleidet: schwarze Nike-Windjacke, blauer Fleece-Kapuzenpullover von Levis, lindgrünes T-Shirt von Hugo Boss, dunkelblaue Levis-Jeans und hellbraune Mountain-Athletics-Ledersportschuhe. Abgesehen davon ist ein dunkler Dreitagebart zu sehen, der Körper ist schlank, 1,76 Meter groß und dreiundsiebzig Kilogramm schwer. Die Leichenstarre ist ausgeprägt. Das bedeutet, dass der Tod vor mindestens mehreren Stunden eingetreten ist.
Ein Fitnesskunde in Verdacht
Seltsamerweise trägt der Tote keine Papiere bei sich. Für einen recht jungen Selbstmörder – er wird vorläufig auf knapp dreißig Jahre geschätzt – ist das ungewöhnlich. Warum sollte er seine Identität verschleiern? Aber ganz abgesehen davon: Warum würde sich
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