Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
ganze Gegend war überzeugt, dass Apotheker Kobernauer den Jungen hatte umbringen wollen.
Die seltsame Geschichte war auf fruchtbaren Boden gefallen, weil man in der ländlichen Oststeiermark allgemein glaubte, dass Apotheker jedes Jahr »mindestens« einen Mann und eine Frau töten dürften, um aus den Opfern Medikamente zu machen.
So kam es, dass die Menschen sich im Fall von Franz Putz nicht beschwichtigen ließen. Sie boykottierten die Apotheke, sodass der Inhaber Kobernauer »wochenlang nicht eine Krone« einnahm. Um nicht vollends bankrottzugehen und sein gesellschaftliches Ansehen wiederherzustellen, verklagte der Apotheker den Bauernjungen wegen Beleidigung.
Franz Putz blieb allerdings hart. Nicht nur an jenem Abend, sondern auch früher schon habe Kobernauer ihn umbringen wollen. Da der Bauer die Beleidigung also nicht zurücknahm, sondern sogar noch eins drauflegte, schickte man ihn zwei Wochen lang in Haft. Seine Überzeugung änderte sich dort allerdings nicht. Selbst dem örtlichen Priester wurde die Sache zu heiß. Auch er hatte gehört, dass einige Apotheker von ihrer Lizenz zum Töten Gebrauch machten. Er weigerte sich daher trotz Nachfragen, bei der Predigt über den Unsinn des Aberglaubens aufzuklären, und hielt sich lieber bedeckt.
Dass der Glaube an mörderische Apotheker sich bis 1912 halten konnte – also bis in eine Zeit, in der Flugzeuge und Zeppeline flogen, Roald Amundsen zum Südpol vordrang, die
Titanic
unterging und Alfred Wegener die Kontinentaldrift beschrieb –, erscheint einem nicht mehr so verblüffend, wenn man einen Blick in die Apotheke eines großen Krankenhauses jener Zeit wirft – beispielsweise im durchaus aufgeklärtenDresden. Dort wurde noch 1912 ein Pulver gegen Epilepsie eingesetzt, das aus gerösteten Elstern hergestellt wurde, die in zwölf bestimmten Nächten erschossen worden sein mussten.
»Man denke sich – in Dresden, bei den ›hellen Sachsen‹, und dazu noch in einer großen öffentlichen Krankenanstalt!«, schauderte es bei diesem Gedanken sogar den Kummer gewohnten Hans Gross, Herausgeber des
Archivs für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik
. Und dennoch: »Man sollte solches für kaum glaublich halten, und doch muss der Apotheker dort in der Stadt und Umgegend Absatz finden.«
Leichenesser Muchin (1922)
Der folgende Bericht steht für sich selbst. Verfasst wurde er vom Untersuchungsrichter Balter, der die Aussage von Petr Kapitanovič, der nicht schreiben und lesen konnte, am 12. Januar 1922 niederschrieb. Typisch ist die schon bekannte Einbettung in Kälte und Hunger – Wendigo…
»Ich, Petr Kapitanovič Muchin, bin sechsundfünfzig Jahre alt und stamme aus Dorf und Volost’ Efimovka, Uezd Buzuluk, Gouvernement Samara. Meine Familie besteht aus fünf Personen: mir, meiner Frau und drei Kindern. Wir haben seit Ostern kein Brot mehr. Wir ernährten uns zuerst von Gras, Pferdefleisch, Hunden und Katzen; zudem sammelten und mahlten wir Knochen.
Bei uns gibt es im Umkreis und in unserem Dorf eine Menge Leichen, die auf der Straße herumliegen oder in der Gemeindescheune auf einen Haufen gelegt werden. Ich, Muchin, schlich abends in die Scheune und nahm die Leiche eines etwa siebenjährigen Jungen mit. Vorher hatte ich gehört, dass einige Bürger unseres Dorfes Menschenfleisch essen. Ich fuhr ihn auf dem Schlitten nach Hause, zerhackte die Leiche mit dem Beil in kleine Stücke, und abends kochten wir sie.
Dann weckten wir unsere Kinder Natal’ja, sechzehn Jahre, Fedor, zwölf Jahre, und Afanaskij, sieben Jahre, und wir aßen alle zusammen. In einer Nacht und einem Tag aßen wir die ganze Leiche auf, sodass nur Knochen übrig blieben.
Zu uns kam ein Mitglied des Dorfsowjets in die Wohnung und fragte, ob es stimmt, dass wir Menschenfleisch essen. Ich sagte, das stimmt. Man brachte mich zum Sowjet; warum sie meine Frau Aleksandra Charitonovna nicht auch mitgenommen haben, weiß ich nicht, sie aß auch mit uns zusammen.
Bei uns im Dorf essen viele Menschenfleisch, aber sie verheimlichen das. Bei uns im Dorf gibt es einige öffentliche Speiseräume. Dort werden nur kleine Kinder verpflegt, von jedem Hof wird nur eins angenommen. Von meiner Familie wurden in einem Speiseraum die zwei Jüngsten verpflegt. Für jedes Kind gibt es ein viertel Pfund Brot, man kocht ihnen eine Suppe und sonst nichts.
Abb. 18: Trotz boulevardesker Aufmachung kein Schauermärchen: Wo Hunger herrscht, werden Menschen gegessen. Hier ein Beispiel aus der
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