Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
überstanden hatten.
Schon am sechsten Tag meldeten sich die Mägen der Verunglückten unüberhörbar. »Wir waren völlig davon besessen, Nahrung zu finden«, erinnert sich Fernando (»Nando«) Seler Parrado, einer der Spieler des Rugby-Teams, im Jahr 2006. »Was uns trieb, war aber nicht einfach Appetit und Mittagshunger. Wenn das Gehirn merkt, dass es ans echte Hungern geht und die Reserven ernsthaft angegriffen werden, erzeugt das einen Adrenalinstoß wie bei einem Tier auf der Flucht. Eine solche Todesangst trieb auch uns.
Es gab in den Bergen aber leider nichts, was wir essen konnten – keinen Vogel, keine Insekten, nicht mal einen Grashalm. In der Sahara oder selbst auf dem offenen Meer hätten wir wohl eher Nahrung gefunden.
Wir durchsuchten daher die Passagierkabine immer und immer wieder nach den kleinsten essbaren Krümelchen und versuchten sogar, Lederstreifen, die wir vom Reisegepäck abrissen, zu essen. Wir zerpflückten sogar die Sitzkissen. Die enthielten aber nur ungenießbares Polstermaterial und kein essbares Stroh.
Da wir also weder die Polster noch das Aluminium vom Flugzeug, noch Plastikmüll oder Steine essen konnten, wäre uns im Grunde nur unsere Kleidung als Nahrung geblieben.Das stand aber nicht zur Debatte, denn dann wären wir erfroren.
Es ist schon verrückt, dass ich trotz meiner zwanghaften Suche nach
irgendetwas
Essbarem die einzigen essbaren Objekte in meiner Umgebung während der ganzen Zeit nicht wahrgenommen habe. Manchmal ist man eben begriffsstutzig.
Als mein Geist dann endlich die entscheidende Grenze überschritt, geschah das mit primitiver Wucht. Es war spätnachmittags, und wir lagen im Passagierraum der zerstörten Maschine. Mein Blick fiel auf die heilende Beinwunde meines Nachbarn. Das Innere der Wunde war feucht und roh, und am Rand war eine Blutkruste. Ich konnte nicht aufhören, auf diese Kruste zu starren, und bemerkte den feinen Blutgeruch in der Luft. Mein Appetit erwachte. Als ich aufsah, bemerkte ich, dass die anderen ebenfalls die Wunde ansahen. Wir hatten Menschenfleisch instinktiv als Nahrung erkannt.
Nachdem sich diese innere Tür einmal geöffnet hatte, konnten wir sie nicht mehr schließen. Nun dachte ich oft an die toten Körper unter dem Schnee. Sie waren unsere einzige Chance zu überleben.«
Es dauerte allerdings noch bis zum zehnten Tag nach dem Crash, ehe sich die Ersten entschlossen, die neue Nahrungsquelle wirklich zu nutzen. Einige der Abgestürzten weigerten sich bis zuletzt, diese Möglichkeit anzunehmen; sie starben darüber. Nando Parrado gehörte nicht zu den »Kostverächtern«: »Das Fleisch stillte meinen Hunger zwar nicht«, berichtete er, »aber es beruhigte mich zu wissen, dass mein Körper nun genug Eiweiß aufnahm, um nicht zu verhungern. Nach der ersten ›Mahlzeit‹ keimte in mir ein wenig Hoffnung auf.«
In der Folge verbesserte das Team dann die Fleischzubereitung. Da sie das Fleisch mangels Öfchen in der Regel nicht kochen konnten, schnitt das jeweils zuständige Kochteam die Leichenmuskeln in kleine Stücke und ließ sie in der Sonne trocknen.
»Mit der Zeit wurde es zumindest für mich einfacher, Menschenfleisch zu essen«, berichtete Parrado. »Wenn wir ausnahmsweise ein kleines Feuer zuwege brachten, verbesserte das den Geschmack des Fleisches gewaltig.
Um länger einen Vorrat an Muskeln zu haben, aßen wir auch Nieren, Lebern und Herzen. Die Organe waren sehr nahrhaft. So gruselig es sich auch anhören mag – die meisten von uns waren mittlerweile blind dafür geworden, dass wir hier unsere Freunde und Teamkameraden wie Schlachtvieh zerlegten.«
Nur mit Menschenfleisch – ergänzt durch ein später gefundenes Butterbrot und zwei Flaschen Rum – überlebten insgesamt sechzehn der Verunglückten. »Zuletzt mussten wir unseren Speiseplan allerdings ausweiten«, berichtete Parrado. »Als uns sowohl die Organe als auch das Muskelfleisch ausgingen, mussten wir die Schädel der Toten knacken, um an deren Gehirne zu kommen. Einige von uns aßen zuletzt auch Gewebe, das sie vorher nicht hinuntergebracht hatten, zum Beispiel Lungen, Hände, Füße und das verklumpte Blut, das sich in den Herzen gesammelt hatte.«
Abb. 19: Acht der sechzehn Überlebenden des berühmten Flugzeugabsturzes in den Anden: auf dem Flugzeug sitzend Alfredo »Pancho« Delgado, stehend Roberto Canessa, der gerade aus den Flugzeugsitzen Schlafsäcke für die Rettungstour näht. Vorn mit hellen Jacken Adolfo »Fito« Strauch (links) und
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