Mordsschock (German Edition)
gelang mir nicht.
Ich merkte schnell, dass die heutige Sitzung vor allem dazu diente, die Stadtabgeordneten zu feiern. Gemeinsam durch alle Fraktionen hindurch huldigte und lobte man sich, den Gottesanger aus den Klauen der Sekte befreit und nun der Vaterstadt mit ihren braven Bürgern zur Verfügung gestellt zu haben. Das Publikum, das aus jenen braven Bürgern bestand, jubelte seinen gewählten Vertretern zu. Klar, viele hofften auf ein schönes Grundstück!
Der Bürgermeister Horst Huber rollte wie eine Billardkugel, die von einem unsichtbaren Stoß getrieben wurde, zielsicher zum Rednerpult. Ein dunkler Anzug schmiegte sich als Wurstpelle um seine gedrungenen Figur. Wie eine Wassermelone thronte sein runder Kopf auf dem kurzen Hals. Das Vollponytoupet und der Schnauzbart ließen nur die kleinen braunen Augen frei, um die sich leichte Fältchen ringelten. Ich schätzte Huber auf fünfzig. Offensichtlich ein Mann, der gutes Essen liebte. Seine Bassstimme tönte vollmundig durch die Aula: „Der Bürgermeister selbst war hoch erfreut, als er die freudige Botschaft über das freudige Ereignis zugetragen bekam ...“ Er sprach tatsächlich von sich in der dritten Person! „Schlussendlich siegt immer das Gute – so ist es auch in diesem Fall! Ein jahrelanger Kampf, in dem wir Sozialdemokraten stets im Sinne von Aufrichtigkeit und Tugend gehandelt haben, ist beendet. Sie sehen hier die Sieger zum Wohle unserer Stadt ...“ In diesem Stil palaverte er geschlagene zwanzig Minuten weiter.
Hubers Gegner von der Opposition, Ludwig von Stetten, dürfte innerlich kochen. Er ließ sich nichts anmerken und beschrieb blumig die große gemeinsame Idee aller Fraktionen. Von Herbie wusste ich, dass dieser Ludwig von Stetten seit Jahren vergeblich versuchte, Bürgermeister zu werden. Er scheiterte jedes Mal an den Mehrheitsverhältnissen, die in Rosenhagen stets zuungunsten der Konservativen ausfielen. Repräsentativer wäre von Stetten: schlank, 1,80 Meter groß, blonde Locken, braun gebrannt, dunkelblauer, perfekt sitzender Anzug und mindestens zehn Jahre jünger als Huber. Ein frisches, sympathisches Gesicht mit humorvollen Augen, das die Wähler reihenweise in seinen Bann ziehen müsste.
Jetzt stand wieder einer von Hubers Partei auf, um in den allgemeinen Salmon einzustimmen. Die hagere Gestalt mit dem rötlichen Vollbart hatte ich schon einmal gesehen ... Während er redete, wanderte seine Hand Richtung Hosenschlitz, als überprüfe er, ob sein Stall ordnungsgemäß verschlossen war. Erschrocken stoppte er auf halber Höhe ab, weil ihm offensichtlich eben einfiel, dass er sich nicht vor den Augen des Publikums an den Schritt fassen durfte.
Meine Güte! Ein heftiger Schreck fuhr mir durch die Glieder. Der Stacheldrahtvermieter! Hatte Gundula nicht ständig „Herr Prange“ am Telefon gesäuselt? Daher kannte sie ihn also! Das Glück war mal wieder voll auf meiner Seite!
In der Pause wurde mir ungeahnte Aufmerksamkeit zuteil. Charmant begrüßte mich Ludwig von Stetten. Er machte einen angenehmen Eindruck, wirkte unkompliziert. Anscheinend war es für die hiesigen Politiker wichtig, jeden Journalisten persönlich zu kennen. Nachdem von Stetten auf elegante Weise – „Ich sehe da gerade Herrn Sowieso ...“ – unseren Smalltalk beendet hatte, stand der Nächste aus seinem Gefolge vor meinem Tisch.
„Ken Winter, ich bin der stellvertretende Fraktionsvorsitzende.“ Wieder so ein sonnenbankgebräunter Charming-Boy im konservativem Einheitsanzug, Anfang vierzig, jungenhafter Typ, braune Haare. Wenn er lächelte, bildete sich ein entzückendes Grübchen im Kinn. Er wirkte ein bisschen wie der Barbiepuppen-Mann – seinen für hiesige Verhältnisse extravaganten Vornamen trug er zu Recht! Ich sah lebhafte schwarze Punkte in seinen blauen Augen funkeln, weil sie sich mit meinen genau in einer Höhe befanden. Winter war ein kleiner Mann mit großer Ausstrahlung.
Er lachte mich vom ersten Moment so vertraulich an, dass ich das Gefühl hatte, wir würden uns seit Langem kennen. „Das ist ja für die Rosenhagener Presse eine attraktive Bereicherung. Ich freue mich.“ Worüber er sich freute, blieb offen, aber seine Gestik signalisierte großes Interesse. Nachdem bisher bei mir wenig glatt gelaufen war, schmeichelte es mir. Während der belanglosen Redeschwälle, die seine Kollegen auf dem Podium abfeuerten, lächelte er später ständig in meine Richtung und zwinkerte mir unauffällig zu. Ein Flirt mit einem konservativen
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