Mordsschock (German Edition)
die von einem Lichterbogen angestrahlt werden. In Sylvies Vorgarten gibt es nur einen braunen Rasen mit vielen kahlen Stellen und matschige Laubhaufen auf den Beeten. Ihre Fenster sind nackt.
Sie lässt mich in ihren zierlichen Flur herein. Es duftet nach frisch gebrühtem Tee. Überall stehen Kartons und verpackte Gegenstände herum. Sie sitzt auf gepackten Koffern.
„Tut mir leid, dass es so aussieht. Ich ziehe nächste Woche um. Großzügige Altbauwohnung in Hamburg-Eppendorf. Lichtdurchflutet, das passt besser zu mir.“
Es stimmt. In den relativ niedrigen, schmal geschnittenen Räumen sehen Sylvies kupferrote Haare wie zerstrubbelte Karotten aus. Draußen, im natürlichen Licht, glänzen sie divenhaft. Sie ist ein Fremdkörper in dieser Umgebung. Ihren blauen Hosenanzug, den sie damals auf der Politparty trug, hat sie garantiert verbrannt. Jetzt unterstreicht sie ihre schlanke Figur mit einem schwarz-samtenen Zweiteiler, um den sie ein buntes Seidentuch geschlungen hat. Ihre katzigen, grünlichen Augen funkeln geheimnisvoll. Sie scheinen ihre Umgebung zu sprengen.
„Wissen Sie, ich brauche Weite zum Arbeiten. Hier gibt’s zwar jede Menge Felder und Wiesen, trotzdem engen sie mich genauso ein wie die kleine Stadt mit den verwinkelten Gassen. Sie nimmt mir die Luft zum Atmen, die ich benötige, um mich weiter zu entfalten. Das ist wie eine eingesponnene Raupe, die in der ewigen Verpuppung steckt. Entschuldigen Sie den stümperhaften Vergleich!“ Sylvie lacht. „Aber meine Flügel sind gestutzt. Die Großstadt macht mich frei! Endlich habe ich das begriffen. Hat lange genug gedauert.“ Sie serviert zwischen den Umzugskartons grünen Tee.
Wir sitzen auf zwei Regiestühlen im ehemaligen Wohnzimmer. Kahle, weiße Wände, die an vielen Stellen deutliche quadratische Schatten aufweisen, glotzen uns an. Ich erinnere mich daran, dass Ken erzählt hat, Sylvie sei Künstlerin. Hinter den zahlreichen großen Pappverpackungen, die an den Wänden lehnen, verbergen sich ihre Bilder.
Sie geht zu einer verhüllten Staffelei vor dem Fenster und holt eine Leinwand hervor. Blaue und rote Linien laufen in der Bildmitte zusammen, die Farben fließen ineinander und vermischen sich, um an Ende wieder als klare getrennte Linien ihre eigenen Wege zu gehen. „Es ist nicht ganz fertig! Ich möchte später ein grünes Dreieck einarbeiten.“
Ich nicke. „Schön!“
„Abstrakt halt! Ken hat meine Arbeiten nie begriffen.“ Sie setzt sich wieder zu mir und rührt heftig in ihrer Teetasse. Ein Armband mit vielen bunten Steinchen klirrt an ihrem Handgelenk und erzeugt im Einklang mit dem Geräusch des Löffels eine seltsame Melodie. Diese Frau scheint mit jeder ihrer Bewegungen in der Lage zu sein, etwas Künstlerisches zu schaffen. Ich verstehe, was sie mit ihrem fortlaufenden Entwicklungsprozess meint. Sie ist frei, schmeißt mit dem Ortswechsel den letzten Ballast ab und kann alles, was in ihr schlummert, als kreative Babys zur Welt bringen. Und sie werden wachsen und groß und stark sein.
‚Ken‘ ist für mich das Stichwort, um auf den Anlass meines Besuches zu lenken. Ich frage Sylvie, wie sie die Bemerkung über ihren Exmann damals auf der Politparty gemeint habe.
Sylvie denkt einen Augenblick nach. Es ist, als müsse sie sich auf diese Vergangenheit, die sie in weite Ferne gerückt hat, besinnen. „Ich halte ihn für gefährlich. Ken ist so besessen von seinem Ehrgeiz, dass er vor Gewalt nicht zurückschreckt. Als ich mich einmal über seine zahlreichen Flirts beschwerte, wurde er handgreiflich. Er rastete total aus. Später rechtfertigte er sich damit, dass er das alles für die Politkarriere tue. Er müsste sich innerhalb der Partei sein eigenes Lager aufbauen, um ganz an die Spitze zu gelangen. Tja, die Frauen waren hingerissen. Zumindest die Weiblichkeit hatte er schon damals auf seiner Seite. Für die hatte die von Stetten-Clique natürlich nicht viel Attraktives zu bieten. Nur eine widerstand Ken, ein nettes Mädchen. Sie lehnte ihn ab. Wenn er sie mit seinem charmanten Getue umgarnte, stand sie abrupt auf. Ich habe das mehrmals beobachtet.“
„Wer?“
„Diese Christine, die vom Rathausbalkon gestürzt ist.“
Ein spitzer Stich fährt mir durch den ganzen Körper. Ich zucke zusammen. Ein Gedanke schießt mir ins Hirn und treibt meinen Blutdruck in die Höhe. Ich möchte wegrennen, aber das geht nicht. Nicht, bevor ich die furchtbare Frage, die sich spontan auf meine Lippen drängt, losgelassen habe.
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