Mordsschock (German Edition)
schlüpfe in die Stiefel und renne aus dem Haus. Ich laufe zum Fluss hinunter.
Vor gar nicht allzu langer Zeit bin ich genauso ratlos in Gedanken versunken neben der Tale entlanggegangen. Es war der Tag, an dem Ken mir das Grundstück gezeigt hatte und ich zum ersten Mal die zwei Seiten dieses Mannes entdeckte.
Damals sah es anders aus. Friedlicher. Es war ein Ort, den man als Einklang mit der Natur charakterisierte. Jetzt ist die ehemalige Wiese in Parzellen unterteilt. Einige Häuser und Garagen stehen bereits. Zäune grenzen die Besitztümer voneinander ab. Gepflasterte Terrassen und Vorhöfe demonstrieren den Sieg der Zivilisation über die einstige Wildnis, die hier jahrzehntelang regierte. Im trüben Winterlicht dämmern die ersten Versuche angelegter Gärten.
Die freien Flächen werden im Frühjahr bebaut. Viele Bäume sind gefällt worden. Gräser und Büsche verschwunden. Alles ist matschig, dunkel und trostlos. Die kaputte Natur schläft. Geruchlos wie unser Haus. Ihr Schweigen ist vorwurfsvoll. Ich bin schuld!
Ich hasse ihn. Jetzt bin ich sicher, dass ich ihn hasse! Ich bin traurig und verzweifelt. Wie konnten sich meine Gefühle für einen Menschen in so kurzer Zeit so radikal verändern?
Ich denke an den heißen Sommertag auf dem Fußballplatz und die anschließende Begegnung mit Kens ehemaligem Schulkameraden im Biergarten. Ich höre seine Stimme. „Weißt du noch?“ , raunt er mir kichernd zu, „wie wir dich über Nacht im Biosaal eingeschlossen haben? Und du aus Rache alle Frösche an den Beinen aufgehängt hast, bis sie ausgetrocknet sind?“
Ich sehe Ken während der Politparty mit bezauberndem Lächeln auf mich zukommen. Diese strahlenden blauen Augen, die mich so besoffen machten. Und all die anderen Frauen, die ebenso von seinem Charme besessen waren wie ich. Ich dumme Gans wähnte mich damals stolz als Auserwählte.
Plötzlich taucht Sylvie, Kens Exfrau, in meinen Erinnerungen auf. Ich höre sie etwas sagen, was ich lange vergessen habe, weil ich es damals als eifersüchtige Frotzelei verdrängt hatte: „Ja, mein Mann kann hinreißend sein. Trotzdem möchte ich jede Frau vor ihm warnen!“
Jetzt verstehe ich, wie sie das gemeint hat! Ich schleudere einen Stein ins Wasser. Das laute Aufklatschen holt mich auf den Boden der Realität zurück. Ich muss mit Sylvie sprechen!
Heimlich, während er schläft, durchforste ich Kens Adressbücher, die in einem Regal über dem Telefon in seinem Arbeitszimmer liegen. Hoffentlich hat er sie unter den Buchstaben ‚S‘ oder ‚W‘ verewigt. Ihren Mädchennamen kenne ich nicht. Irgendwo steht sie. Die beiden mussten zwangsläufig Kontakt halten, um finanzielle Angelegenheiten aus dem Verkauf ihres gemeinsamen Hauses zu regeln. Die Seiten mit den Adressen und Telefonnummern rieseln mir durch die fahrigen Finger. Endlich werde ich fündig. Da ist sie! Sylvie Winter.
Die goldene Uhr auf dem Schreibtisch zeigt 23 Uhr an. Ich horche, ob alles ruhig ist, schließe die Tür, tippe hastig die Nummer ein.
Nach dem dritten Klingeln meldet sich eine freundliche weibliche Stimme. Sie ist mir unbekannt. Aber ich habe Sylvie auch nur einmal gesprochen. Eine Sekunde lang bin ich versucht aufzulegen. Die Frau wird mich für verrückt halten, dass ich sie um diese Zeit anrufe, um mich mit ihr zu verabreden.
„Hallo, wer ist dort?“, erkundigt sich die wohlklingende Stimme.
Ich gebe mir einen Ruck. Für verkorkste Höflichkeiten habe ich keine Zeit. „Ähem, hier ist Nina Campbell. Ich bin die, die Ihren Exmann geheiratet hat. Es gibt, nun ja, gewisse Probleme zwischen ihm und mir. Und weil Sie ihn viel besser kennen als ich, würde ich mich gerne mal mit Ihnen über Ken unterhalten.“
„So?“ Sylvie scheint verblüfft. „Jetzt gleich am Telefon?“
„Nein, wenn es Ihnen nichts ausmacht, am liebsten persönlich. Er weiß nichts von meinem Anruf.“
Sylvie ist eine unkomplizierte Frau. Nachdem sie die erste Überraschung überwunden hat, lädt sie mich gleich für den nächsten Tag zu sich ein.
Sylvie wohnt jetzt in einer weiß gestrichenen Doppelhaushälfte mit blau lackierten Fensterläden nur drei Straßen von Herbie entfernt. Während bei ihren Nachbarn Kinderfahrräder im Hauseingang parken, lehnt vor Sylvies Briefkasten ein hoher schwarzer Rabe aus Stahlrohr. Nebenan glitzern kleine Lichterketten an einem Tannenbaum, die winterlichen Beete sind vorbildlich mit Stroh abgedeckt. An den Fenstern kleben bunte Engel und Weihnachtsmänner,
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