Mordsschock (German Edition)
Sie damals nicht gleich Anzeige erstattet? Wenn ich es richtig verstehe, haben wir es mit versuchtem Totschlag zu tun!“ Herder guckte mich zweifelnd an, als ob ich mir alles ausgedacht hätte, um mich interessant zu machen.
„Es erschien mir absurd. Ich glaubte, es handle sich um eine Verwechslung“, äußerte ich dünn und wünschte mir sofort, das nicht gesagt zu haben.
„Aha.“ Herder notierte wieder etwas.
Ich kam mir vor wie bei einer Prüfung, in der ich eine schlechte Benotung erhielt. Sehnsüchtig schielte ich auf die Flasche Wasser, die neben dem Kommissar stand. Meine Zunge klebte am Gaumen.
Zum ersten Mal an diesem Tag zeigte Herder menschliche Züge. „Möchten Sie ein Glas Wasser?“, interpretierte er meine flehenden Blicke korrekt. Als er sich vorbeugte, um mir einzuschenken, wehte ein Lavendelhauch zu mir herüber und zerstörte sein Machoimage. Jetzt bemerkte ich die dunklen Schatten um seine Augen herum.
Ich nahm einen tiefen Schluck, richtete mich auf dem Stuhl auf und streckte das Kreuz durch. Besser! Ich dachte nicht daran, länger die Witzfigur abzugeben. „Ja, und nun erkenne ich Zusammenhänge. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen“, erklärte ich wichtig. „Ich habe mich nicht nur mit dem Gottesanger, sondern auch mit den drei toten Politikern Ihrer Partei beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich Christine Riecken, wie Sie uns selbst erzählten, unpopulär zum Gottesanger geäußert hatte. Die Umstände sprechen nach Ansicht eines Gutachters gegen Selbstmord. Sie lag zu weit von der Mauer weg, hinterließ keinen Brief und wählte zudem eine selbstmorduntypische Todesart. Es läuft jemand herum, der die Leute ausschaltet, die sich auf unbequeme Weise in das Thema ‚Gottesanger‘ einmischen.“
„Und Sie meinen, das langt als Beweis für Mord? Was hätte die Person für ein Motiv? Nein!“ Herders Tonfall verschärfte sich. „Im Fall ‚Christine Riecken‘ haben wir es, wie bei den beiden anderen, mit Suizid zu tun.“
„Aber ihre Eltern glauben nicht, dass ...“
„Meinen Sie, irgendwo auf der Welt gestehen sich Eltern ein, dass ihr Kind freiwillig von einem sechs Meter hohen Balkon sprang? Sie wollen es nicht wahrhaben, aber es ist eindeutig!“
„Was macht Sie so sicher?“
„Christine Riecken nahm Tabletten. Das Blutbild lässt auf regelmäßigen Konsum von Antidepressiva deuten.“
Also doch! Ich hatte das Gefühl, als verpasse mir jemand mit dem Hammer einen Schlag auf den Kopf. Meinen Trumpf, die Geschichte mit der merkwürdigen Mail, die sie mir vor ihrem Tode geschickt hatte, schluckte ich runter und biss mir dabei schmerzhaft auf die Zunge.
Während Herder und seine Leute am Treffpunkt auf den anonymen Briefeschreiber warteten, fuhr ich für zwei Urlaubstage meine Familie und Lila besuchen. Ich brauchte Abstand. Vics Streiche, Sophies Jammereien und Lilas Albernheiten waren dafür das Richtige.
Ich ging ausgiebig shoppen. Seitdem ich in Rosenhagen wohnte, fühlte ich mich wie in New York, wenn ich durch Hamburgs City lief. Ich ließ mich vom Sog der Massen treiben und bewunderte staunend die neuen Trends, als ob ich eine Art Almöhi wäre, der nach vielen Jahren zum ersten Mal seine Berge verlassen hatte. Keine zwei Autostunden entfernt tickten die Uhren anders. Nur eines war gleich: Sowohl in der Großstadt als auch in der Kleinstadt existierten ungeschriebene Gesetze für die Leute, die dazugehören wollen!
Herder teilte mir am Telefon mit, er und seine Leute hätten außer einem harmlosen Stadtstreicher, der sich dort sein Schlafquartier suchte, niemanden beim Alten Friedhof getroffen.
Auf dem Rückweg verabschiedete sich der Motor des Polos kurz vor Rosenhagen. Ein heiserer Husten oder ‚Spotz spotz‘ in Comicsprache, dann Stille. Auf dem Armaturenbrett flackerte ein rotes Lämpchen. Vermutlich mal wieder kein Öl!
Ich kramte verzweifelt im Kofferraum und fand eine angebrochene Tüte Chips, eine zerknüllte Packung Geschirrhandtücher, eine abgegrabbelte Bravo von Vic, eine kaputte Glühbirne, eine beschmierte Hamburgerpackung, eine leere Coladose, eine vergammelte Bananenschale und einen nagelneuen Türschlossenteiser (immerhin!). Aber kein Ölfläschchen. Wütend trat ich gegen die Tür des Polos. Aua! Ein blauer Fleck mehr.
Wenigstens das Warndreieck lungerte in einer signalorangefarbenen Kiste unterm Fahrersitz neben einem zerdrückten Plastikkaffeebecher und einer eingedellten Schachtel ‚Tictac‘. Ich baute Warndreieck
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