Mordsviecher
hätte das auch gebracht? Hätte Sonja Ruf angehalten, wenn sie nun in die Luft geschossen hätte? Ein zweiter Schuss ins Nichts?
Obwohl Irmi kurz im Zweifel war, ob sie Kathi allein lassen konnte, stürzte sie hinterher. Die Klappe, die in die Katakomben führte, stand offen. Sonja Ruf schien gute Ortskenntnisse zu haben.
Irmi hatte sich einfach einlullen lassen. Sie hätte der Frau so viel Entschlossenheit nicht zugetraut. Nun wurde ihr schlagartig klar, dass sie sich verschätzt hatte. Sonja Ruf war so tief verletzt, dass sie wie eine Selbstmordattentäterin bereit war, ihr Leben zu lassen. Vielleicht, weil sie nichts mehr zu verlieren hatte.
Irmi kletterte die enge Treppe hinunter und versuchte sich zu orientieren. Es musste einen Lichtschalter geben, es hatte wenig Sinn, orientierungslos durch die Dunkelheit zu rennen. Irmi rief sich zur Ruhe und Besonnenheit auf.
Sonja Ruf saß in der Falle: Die Tür hinauf in den ehemaligen Reptilienraum war zwar unversperrt, aber die Außentür, die von den oberen Räumen hinaus aufs Gelände ging, war verschlossen.
Schließlich entdeckte Irmi den Lichtschalter. Wenig später tauchte das kalte Licht von Neonröhren die Gänge in eine gleißende Helligkeit. Sie hielt kurz inne, horchte auf Geräusche, aber Sonja Ruf hatte einen gewissen Vorsprung.
»Frau Ruf! Sie kommen hier nicht mehr raus! Bitte, reden Sie mit mir! Bitte, kommen Sie, das hat doch keinen Sinn!«
Irmi stieß die erste Tür rechts auf, doch nichts. Beidseitig des Ganges lagen all jene Räume, die sie damals mit dem Schlangenmann inspiziert hatten, überall dort waren noch Regale und Paletten gestapelt. Es war ein Wahnsinn, was sie hier machte. Es gab viel zu viele Dinge, die Sonja Ruf Deckung boten. Auch im Gang standen Kistenstapel.
»Frau Ruf! Sind Sie hier? Das bringt doch nichts!«
Als sie sich langsam dem Kistenstapel näherte, begann der plötzlich wie durch Zauberhände zu schwanken. Er wankte, er trudelte und schien ein Eigenleben zu haben, er bewegte sich wie eine Fichte im Wind, dann fiel er. Geradewegs auf Irmi zu.
Das Geräusch durchschnitt die Stille, Irmi hatte die Hände über den Kopf gerissen und war zur Seite gesprungen. Eine Kiste verletzte ihren Knöchel, ein kurzer schneidender Schmerz nahm ihr kurz den Atem. Immer noch dröhnte ein Erdbeben, hallte nach, bis sie schließlich das ganze Ausmaß erfassen konnte. Sonja Ruf hatte den gewaltigen Stapel umgestoßen, fast der gesamte Boden war mit Kisten bedeckt. Verdammt, sie musste Verstärkung holen, aber ihr Handy hatte hier unten kein Netz.
Und auf einmal erfasste Irmi Wut. Wut auf sich selbst. Wut auch auf Sonja Ruf, der sie immer wieder Gesprächsangebote gemacht hatte und die sie nun in diese Situation gebracht hatte.
»Frau Ruf! Sie verletzen sich und andere. Das bringt doch alles nichts mehr. Reden Sie mit mir!«
Von irgendwoher kam eine Stimme. »Reden, immer reden. Das tun wir Menschen. Wir reden uns um unsere Seele. Wir reden und meinen das Gegenteil. Ich rede nicht mehr, Frau Mangold. Ich handle nur noch.«
»Handeln, was für ein Handeln ist das? Amok zu laufen?«
»Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Stammt von Molière. Und ich habe zu lange nichts getan gegen Stowasser und seine Kumpane.«
»Aber das ist nicht Ihr Weg, Frau Ruf! Sie haben eine Gabe. Sie können schreiben. Sie können Menschen berühren. Schreiben Sie, anstatt so zu handeln. Schreiben Sie, anstatt zu reden. Schreiben Sie, aber kommen Sie hier raus!«
»Schreiben ist auch nur das geordnete Reden. Das Zusammenfassen von Gedanken, die einen zu erdrücken drohen. Goethe hat nicht recht, dass das Schreiben eine Art sei, sich das Vergangene vom Hals zu schaffen. Goethe lügt, das Vergangene bleibt, auch wenn es geschrieben ist!«, brüllte Sonja Ruf zurück.
»Frau Ruf, mich interessiert momentan nicht die Vergangenheit. Mich interessiert die Gegenwart. Verschanzen Sie sich nicht ständig hinter den Zitaten irgendwelcher vermeintlich kluger Köpfe. Sie kommen hier nicht raus. Das ist Ihre Gegenwart, und wenn Sie so weitermachen, wird diese Gegenwart heute Ihre ganze Zukunft drehen. In eine Richtung, die Ihnen vielleicht gar nicht gefällt.«
Irmi war über die Kisten gestiegen und schlich den Gang entlang, während sie ihre Idee verfluchte, das Licht angemacht zu haben. Es war so hell. So verräterisch hell. Sie warf Schatten, sie war alles andere als unsichtbar. Und da fiel auch ihr ein
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