Mordswald - Hamburgkrimi
merkte, dass Katja Ansmann auf eine Reaktion von ihr
wartete. Sie sah die Frau an. Erneut fiel ihr auf, dass sie graue Augen hatte,
doch heute lag ein Hauch von Grün darin. "Kennen Sie meinen Vater?",
fragte sie leise.
Katja Ansmann nickte. "Unsere Familien sind eng
befreundet, und ein Onkel meiner Mutter ist mit einer Cousine Ihres Vaters
verheiratet." Womit Lina über tausend Ecken irgendwie mit Katja Ansmann
verwandt oder zumindest verschwägert war. Irgendetwas in ihr wollte lachen und
weinen und schreien, alles gleichzeitig. "Ich kenne Meinhart Steinhagen
schon mein ganzes Leben lang."
Unvermittelt musste Lina an das Treffen mit ihrem Vater auf
dem Friedhof Ohlsdorf denken. An das Familienmausoleum und an dieses Gefühl der
Verbundenheit, das sie damals kurz überkommen hatte. Diese fremde Frau kannte
ihren Vater schon ihr Leben lang, sie selbst dagegen … sie hatte Christian.
Kaum war dieser Gedanke in ihrem Kopf aufgetaucht, schämte sie sich. Christian war ihr
Vater, sie hatte sich nie einen anderen gewünscht. Und dennoch …
Sie holte tief Luft. "Ich habe meinen Vater genau ein
einziges Mal gesehen", erklärte sie mit fester Stimme. "Das war
wenige Wochen nach diesem Schülertreffen." Sie erzählte Katja, was sie
auch Max erzählt hatte: dass anschließend der Kontakt wieder abgebrochen war,
und dass Meinhart Steinhagen vor einigen Jahren angefangen hatte, sie hin und
wieder anzurufen. "Es ist mir nicht ganz klar, was er damit bezweckt, aber
ich weiß ,
dass er irgendetwas im Schilde führt." Sie zuckte die Achseln. "Ich
weiß es einfach."
Katja Ansmann lehnte sich zurück und atmete vernehmlich aus.
"Das glaube ich Ihnen unbesehen", sagte sie. "Meinhart
Steinhagen tut selten etwas ohne einen Hintergedanken."
"Sie mögen ihn nicht?"
"Nein."
Lina lächelte. Mit dieser Antwort hatte die Frau sich bei ihr
einen riesigen Stein im Brett verdient. Zu ihrer Überraschung erwiderte Katja
Ansmann ihr Lächeln.
"Seit wann wissen Sie eigentlich, dass er mein Vater
ist?", fragte sie. Erst jetzt, als sie langsam begann, sich zu entspannen,
merkte sie, wie sehr sie bis jetzt unter Strom gestanden hatte.
"Seit Sie die drohende Insolvenz meines Vaters erwähnt
haben", erwiderte Katja Ansmann. "Vorher fiel mir zwar Ihre
Ähnlichkeit mit Johanna auf, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Sie
ihre Schwester sein könnten."
Nachdenklich nahm Lina einen Schluck von der inzwischen
lauwarmen Latte. "Bleibt die Frage, warum er mir davon erzählt hat",
sagte sie. "Er hat es so hingestellt, als sei es ein Vertrauensbeweis
seinerseits, aber das habe ich ihm keinen Moment abgenommen."
"Ich nehme an, er hofft darauf, dass über Sie bekannt
wird, wie schlecht es um das Bankhaus Ansmann steht", sagte Katja. Lina
sah sie überrascht an.
"Hat er dafür nicht seine Kontakte zur Presse? Ich würde
meinen, ein Mann in seiner Position …"
Katja Ansmann nickte. "Natürlich kennt er die richtigen
Leute an den richtigen Stellen. Aber auf die kann er in diesem Fall nicht
zurückgreifen, weil dann sofort klar wäre, dass er etwas ausgeplaudert hat. Wie
ich bereits sagte, der Kreis der Eingeweihten ist äußerst überschaubar."
Lina ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. "Wenn ich
hingegen die Sache offiziell in die Ermittlungen hätte einfließen lassen und
die Pressestelle der Polizei das veröffentlicht hätte … dann hätte niemand
gewusst, dass diese Information ursprünglich von ihm stammt."
Katja Ansmann nickte. "Die prekäre Lage der Bank wäre
publik geworden, die Anleger und Kunden wären nervös geworden und hätten das
Geld abgezogen …" Sie schloss die Augen, als sie versuchte, sich dieses
Horrorszenario auszumalen. "Die Arbeit von fünf Generationen … einfach
dahin."
"Aber er hat nicht damit gerechnet, dass ich nichts
sage. Oder zumindest offiziell nichts sage." Plötzlich musste Lina erneut lachen.
Prustend sagte sie: "Dass ich einmal dabei helfe, eine Bank zu retten …"
Katja Ansmann lächelte. Ihre Mundwinkel, die bislang müde von
der Schwerkraft nach unten gezogen worden waren, begannen zu zucken. Dann fing
auch sie an zu lachen.
Am Morgen hatte Max bei Frau Meyer angerufen und sie gebeten,
Niels Hinrichsen irgendwie so lange bei sich in der Wohnung zu behalten, bis er
da war. Sie hatte ihrem Nachbarn ein ausgiebiges Frühstück bereitet, doch als
Max um kurz vor zehn endlich ankam, war die arme Frau schon ganz verzweifelt,
ebenso wie Niels Hinrichsen, der gar nicht begriff, warum er
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