Mordwoche (German Edition)
seiner Mitmenschen einfach hinwegzusehen. Was er nicht sah, existierte nicht. So einfach funktionierte Adrianos Welt. Jedenfalls bis jetzt. Die Angst, die den kleinen Italiener jetzt erfasst hatte, ließ sich nicht einfach weglächeln. Bestimmt hatte der Scharfschütze sein Präzisionsgewehr in der Zwischenzeit schon in Anschlag gebracht und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Adriano kamen Zweifel. Er hätte in den Umschlag schauen sollen, den er von Karl bekommen hatte! Wie hatte er nur so dumm sein können! Vielleicht war es sein Foto, das Stefano erhalten hatte. Adriano trat der Schweiß auf die Stirn. War er in Gefahr? Wollte Karl ihn umbringen lassen?
Machte er sich selbst zur Zielscheibe des Killers, wenn er hinausging? Adriano musste nicht lange nachdenken, bis ihm mehrere Situationen einfielen, in denen er Karl Merz bei ihren Geschäften nicht immer ganz korrekt beteiligt hatte. Zwar war sich der Pizzabäcker sicher, dass sein Geschäftspartner davon nie etwas mitbekommen hatte, aber eine endgültige Sicherheit gab es nicht. Diese letzte Wahrscheinlichkeit lastete jetzt schwer auf dem Italiener. Er versuchte sich damit zu trösten, dass Stefano ihm sicher gesagt hätte, wenn er in dem verschlossenen Umschlag seines Auftraggebers das Foto seines Freundes Adriano vorgefunden hätte. Auf der anderen Seite wie konnte er sich da so sicher sein? Dieser Job hier war ein Auftrag wie jeder andere. Das war Stefanos Beruf, den würde er professionell ausführen. Adriano schüttelte den Kopf, wie um sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen. Nein! Stefano würde nicht auf ihn schießen, das würde er nicht tun. Immerhin hatte Adriano in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass der Sizilianer den ein oder anderen lukrativen Auftrag in Deutschland erledigen konnte. Wenn schon die Freundschaft ihn nicht davon abhalten würde, im Falle eines Falles sein Berufsethos hintenanzustellen, sofern man bei einem Mörder überhaupt von so etwas sprechen konnte, dann würde er doch zumindest keine Hand, die ihn fütterte, abschlagen. Das hoffte Adriano jedenfalls inständig. Schweren Herzens stand er auf und ging dem Trauerzug nach, der sich gemessenen Schrittes in Richtung Grabstelle bewegte.
„Verdammt, zeig dich endlich!“ Stefano Zanolla sprach mit sich selbst. Er schwenkte mit dem Zielfernrohr langsam über die Prozession der Trauergäste. Das Opfer musste hier doch irgendwo sein. Egal, was zwischen seinem Auftraggeber und der Zielperson vorgefallen war, zur Beerdigung würde sein Opfer mit Sicherheit erscheinen. Der Italiener stieß einen leisen Fluch aus. Das waren wirklich erschwerte Arbeitsbedingungen hier. Es war so kalt, dass Stefano sich zusammenreißen musste, damit seine Zähne nicht vor Kälte aufeinanderschlugen. Gehört hätte das zwar niemand, aber sicher zu zielen wäre dann nicht mehr möglich gewesen. Es war nicht nur kalt, sondern mittlerweile auch komplett dunkel. Etliche Personen waren schon aus der Kapelle herausgekommen, aber die Person von dem Foto hatte er noch nicht entdeckt. Stefano merkte, dass er unruhig wurde. Er hatte nur diese eine Chance, das wusste er. Die musste er nutzen.
Valentina Felice hatte sich ohne ihren Mann, aber hocherhobenen Hauptes in den Trauerzug eingereiht. Wie hatte er glauben können, ihr diesen Auftritt mit so einer windigen Entschuldigung ausreden zu können? Das war ihre Piazza, ihr Corso. Leider wehte kein angenehmes warmes Lüftchen vom Meer herüber und es war auch kein lauer Sommerabend im Süden, den sie und Adriano Arm in Arm lustwandelnd genossen, sondern die Kälte war schneidend und sie musste mit dem Friseur vorlieb nehmen. In vielen Dingen hatte sich die Gastronomen-Gattin an ihre neue Heimat angepasst und mit der schwäbischen Mentalität hatte sie ihren Frieden geschlossen, aber an das raue Klima hier würde sie sich wohl nicht mehr gewöhnen. Wenn die Geschäfte nicht so gut laufen würden für ihren Mann, dann hätte sie ihn sicher schon längst gedrängt wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Valentina zog den warmen Mantel enger um sich. Als sie vor dem offenen Grab standen und sich die Trauergäste wie Zuschauer versammelt hatten, begann für Valentina Felice der zweite Akt, der dramatische Höhepunkt ihrer Inszenierung. Jetzt musste sie sich den besten Platz sichern. Die Grabstelle lag im hinteren Teil des Friedhofs, direkt an der Mauer. Die Familienmitglieder hatten sich in einem Halbkreis um das Grab gestellt und die restlichen Trauergäste
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