Mordwoche (German Edition)
überlegte, ob er sich vielleicht doch noch für einen Job bei der Kripo bewerben sollte? Bis jetzt jedenfalls hatte er alles richtig gemacht und er musste zugeben, dass es ihm gefiel, dass sein Arbeitstag ausnahmsweise einmal nicht aus der Schlichtung von Nachbarschaftsstreitigkeiten und dem Aufspüren von Falschparkern bestand. Wenn er allerdings zur Kripo wechseln würde, hieße das, dass er aus Bärlingen weg müsste. Das an sich war durchaus zu verkraften, das wusste er bereits aus eigener Erfahrung. Seine Mutter wäre zwar nicht begeistert, würde es aber bestimmt verstehen. Allerdings würde er Lisa-Marie dann auch nicht mehr sehen oder nicht mehr so häufig. Dieser Gedanke gefiel dem Hauptkommissar überhaupt nicht. Auch wenn er ihr heute eher aus dem Weg gegangen war, weil er sich wegen gestern befangen fühlte, so hatte er sich doch auf das Wiedersehen mit ihr gefreut, seit er aufgestanden war.
Was sie wohl heute Abend macht? Bestimmt hatte seine Kollegin etwas vor, eine Frau wie sie würde Silvester nicht allein feiern. Georg Haller würde sich wahrscheinlich das Mundart-Kabarett im Südwest-Fernsehen ansehen und wie gewohnt gegen halb elf ins Bett gehen. Kein Mensch aus der Schubartstraße Nummer 5 ging an Silvester nachts vor die Tür, um Raketen steigen zu lassen. Allein die Vorstellung, dass Herr Ebert oder die Schäufeles Geld für so etwas wie Böller ausgeben würden. Undenkbar!
In der restlichen Schubartstraße allerdings sah es am ersten Januar aus wie überall auf den Straßen. Vom Schnee oder Regen aufgequollene Reste der Silvesterkracher warteten darauf, dass eine außerplanmäßige Kehrwoche sie in die Tonne beförderte. Tatsächlich funktionierte in Bärlingen, was in vielen anderen deutschen Städten unmöglich wäre. Am ersten Januar reinigten die Bewohner Gehwege und Straßen von den Neujahrs-Überresten und das nicht nur, weil es die Kehrwoche gab. Nein, es war ihnen ein inneres Bedürfnis. Da stand keine einzige Sektflasche mehr am Straßenrand und kein buntes Papierchen klebte feucht im Rinnstein. Natürlich gab es auch in der Schubartstraße Nummer 5 die Kehrwoche und in dieser Woche hatte es Georg Haller getroffen. Aber das bedeutete nicht, dass er am Neujahrsmorgen eine Extra-Schicht würde einlegen müssen. Nur selten verirrte sich eine Silvester-Rakete aus dem Neubaugebiet, wo zunehmend auch Nicht-Schwaben wohnten, hierher. Vor dem Mehrfamilienhaus würde es deshalb auch nach der Silvesternacht so sauber aussehen wie jeden Tag. Den Jahreswechsel selbst verschliefen die Bewohner.
Der Stefan hatte sie gefragt, ob sie mit ihm zum Silvesterball des Gewerbevereins in die Stadthalle gehen wolle. Mit Live-Musik und Tombola. Auch wenn der Kollege vom Bereitschaftsdienst seine sportlichen Fähigkeiten im Bett eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte, wollte Lisa-Marie Töpfer die Einladung nicht annehmen. Das war ihr zu spießig und mit dem Stefan war es vorbei. Sie wollte ihm keine Hoffnungen machen. Was wohl Schorsch heute vorhatte? Zum Ball ging der doch bestimmt nicht. Feierte er vielleicht mit seiner Mutter? Dinner for one im Altersheim? Vielleicht würden sie noch was zusammen trinken gehen, nach dem Einsatz.
Die Polizeiobermeisterin zuckte zusammen. Ein lauter Schrei schreckte sie aus ihren Gedanken. Was war da passiert? Sie sah, dass vorn am Grab die Menschen auseinanderwichen. Es gab lautes Geschrei. Panisch flohen die Trauergäste in Richtung Ausgang. Einige Menschen beugten sich über eine Person, die am Boden lag, so viel konnte Lisa-Marie Töpfer erkennen. Es gab keinen Zweifel, der Killer hatte zugeschlagen. Die Polizisten, die es im Alltag durchweg mit harmlosen Gesetzeswidrigkeiten zu tun hatten, reagierten professionell. Lisa-Marie Töpfer sah, dass ihre Kollegen mit gezogenen Waffen hinter den Grabsteinen in Deckung gingen, auch sie zog ihre Dienstpistole.
Woher war der Schuss gekommen? Würde es bei einem Treffer bleiben? Alles blieb ruhig. Der Killer hatte offensichtlich seinen Auftrag erfüllt. Jetzt musste sich der Hauptkommissar erst einmal selbst ein Bild verschaffen von dem, was am Grab passiert war. Er ging in die Knie, um nach dem Opfer des Attentats zu sehen. Nach einem prüfenden Blick griff er zu seinem Funkgerät und bestellte einen Krankenwagen. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Er musste den Killer finden. Der Georg Haller richtete sich auf und nahm das Fernglas mit Nachtsichtfunktion an die Augen. Der Schuss musste das Opfer von vorn
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