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Morenga

Morenga

Titel: Morenga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Der Sergeant, der das inzwischen verwilderte und bissige Tier gefangen, wieder an den Stall gewöhnt und zu Fleisch gebracht hatte, wollte jetzt auch in Ukamas eine Zucht aufbauen. Benötigt wurde ein Eber.
    Einmal kam eine Delegation der Reiter mit dem Sergeanten zu Gottschalk und verlangte ein Fachurteil darüber, inwieweit die Schweinezucht in diesem Lande lohnend sei. Von Gottschalks Urteil hing ab, ob das Schwein gleich an den Spieß wandern würde, wie die Reiter es wünschten, oder ob man sich tatsächlich nach einem Eber umsehen sollte, um so längerfristige Pläne zur Schweinefleischgewinnung zu verfolgen.
    Gottschalk blickte in die gierigen Augen der Umstehenden und sagte: Die Bedingungen für eine großangelegte Schweinezucht seien in diesem Lande äußerst günstig bei so viel Dreck und Unrat, den die deutsche Truppe hinterlasse.
    Das Schwein wurde nicht geschlachtet, und Gottschalk konnte weiter an den glühendheißen Nachmittagen das vertraute Grunzen im Schatten hören.
    Was Stationschef Leutnant Gerlich beunruhigte, war, daß dieser Stabsveterinär weder redete noch las, noch, was doch normal gewesen wäre, soff. Er saß einfach nur da und blinzelte unter seinem Mützenschirm in den Himmel. Ein Sonderling, an dem aber durchaus nichts Kauziges, Komisches war. Niemand wäre eingefallen, über ihn zu lachen, was in Keetmannshoop, wo man ihn beständig über Kamele schwärmen hörte, oder früher noch in Warmbad mit seiner Hottentotten-Universität, recht häufig der Fall war. Zuweilen tippte man sich ganz unverhohlen an die Stirn. Hier, in Ukamas, umgab ihn, wie er schweigend dasaß und in die Ferne starrte, eine kühle Distanz. Es war die Einsamkeit des Teilnahmslosen, die sogar den Witzbold Gerlich wortlos an ihm vorbeigehen ließ. Nur einmal und ganz unvorhergesehen wurde Leutnant Gerlich Zeuge einer heftigen, ja exaltierten Reaktion des Stabsveterinärs, als er ihm die Neuigkeit brachte, es habe endlich diesen Morenga erwischt. Der Stabsveterinär starrte ihn entgeistert an. Es dauerte einige Zeit, bis Gerlich ihm klarmachen konnte, daß es dieses schwarze Schwein leider nicht voll erwischt habe, er sei nur angeschossen, aber doch ausgeschaltet und jetzt in einem englischen Gefängnis. Eine deutsche Abteilung habe ihn und seine Leute einfach auf englischem Gebiet ausgeräuchert. Wenig später, Ende Mai, gab Gottschalk einem nach Warmbad gehenden Wagentransport sein Abschiedsgesuch mit.

    Gottschalk hatte nach dem Verlust seines Tagebuchs ein neues begonnen. Er machte seine Eintragungen in einen Taschenkalender mit linierten Seiten. Auf jeder dieser Kalenderseiten finden sich bis zum Tag seiner Abreise aus Ukamas Bleistiftnotizen. Merkwürdigerweise sind es aber, von drei Ausnahmen abgesehen, ausschließlich meteorologische Beobachtungen, die täglich mit großer Akribie festgehalten sind: Windrichtung und Windstärke (Gottschalk muß sich also ein Windmeßgerät gebaut oder besorgt haben), Niederschlagsmenge, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Bewölkungsstärke und Wolkenformationen. Deren Beschreibung füllt in einer kleinen Schrift den Taschenkalender, und die Form dieser Bewölkungsbeschreibung ist das Erstaunlichste an diesem Tagebuch.
    Die dürre, konventionelle Begrifflichkeit der Meteorologen wird durch eine höchst eigenwillige Sprache gesprengt, die mit kühnen Bildern arbeitet, ja sogar mit neuen Wortschöpfungen, und das zu beschreiben sucht, was selbst aus der ständigen Veränderung heraus seine Form hervorbringt, – was unendlich vielfältig, im steten Wandel begriffen, sich dennoch immer wieder ähnlich wird: die Wolken.
    Gottschalk hat offenbar den Versuch unternommen, ein Beschreibungssystem zu entwickeln, das jene Bewegung und Vielfalt in sich aufnimmt, ohne wiederum zu einer Nomenklatur zu erstarren.
    Ein Beispiel:

    12. 1. 1907
    Morgens bei Sonnenaufgang im Südosten ein wolliger Teppich blaßrosa Färbung, die Ränder ausgefranst und lichtgrau. Vormittags blauschnigiert sich der Teppich langsam gegen Süden. Nachmittags Wollrollkroogen stahlgrau gepunzt.
    Abends gegen 17. 20 Uhr: Verweisung der Driftwolken nach Norden. Flaumig federich.

    Dieser und ein zweiter Taschenkalender (ähnlichen Formats) mit den täglichen Eintragungen wären aufschlußreich für den Meteorologen, da darin für den Zeitraum vom März 1906 bis Mai 1907 alle wichtigen klimatischen Daten im Raum Ukamas aufgeführt sind. Darüber hinaus ist es der leidenschaftliche Versuch, der erstarrten, entsinnlichten

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