Morenga
Sprache wieder jenes Moment des Spontanen, Mannigfaltigen, Individuellen zu geben, das Gottschalk anscheinend beispielhaft in der Wolkenbildung zu erkennen glaubte.
Allerdings gibt es in diesen Tagebüchern keine Hinweise darauf, wie Gottschalk sich ein Informationssystem vorgestellt hat, das nicht allein auf einer jeweilig neuen Einzelbeschreibung beruht, sondern durch einen gewissen Abstraktionsgrad auch verallgemeinernde Begriffe zugelassen hätte. Gerade das aber wäre für eine verständliche Übermittlung meteorologischer Beobachtungen erforderlich. Der gängige meteorologische Kode hat seinen Wert gerade in seiner Fungibilität. Dazu liegt die Gottschalksche Wolkenmorphologie quer.
Während der Zeit in Ukamas wird in den Tagebüchern nur an zwei Stellen nicht vom Wetter geredet.
Einmal findet sich im Adressenregister des Taschenkalenders von 1906 die Konstruktionsskizze eines Freiballons, der mittels zweier Schleppseile und eines Ballonsegels gesteuert werden soll. Ein Verfahren, das zu der Zeit schon bekannt war. Der Ballonfahrer, der, frei schwebend, gänzlich von der zufälligen Windrichtung abhängig ist, kann durch den Widerstand von Seilen, die über den Boden schleppen, den Ballon bis zu einem gewissen Grad navigieren. Ingenieur Andrée, ein Schwede, hatte 1897 versucht, mit einem solchen Ballon den Nordpol zu überfliegen. Er war verschollen. Wahrscheinlich aber kannte Gottschalk dieses Steuerverfahren der Ballonfahrer nicht und hat es für sich neu entwickelt. Zum anderen findet sich unter dem 30. März 1906 eine Notiz: Unser Inneres verstehen lernen als geologische Formation. Also eine Geologie der Seele mit ihren Brüchen, Verschiebungen, Sedimenten, Ablagerungen und Erosionen.
Hinweise auf Personen, Morenga etwa oder Meisel, Leutnant Gerlich, Wenstrup oder andere finden sich an keiner Stelle der beiden Taschenkalender.
Meisel war einmal Ende Oktober auf seinem Maultier von Heirachabis herübergeritten. Meisel und Gottschalk saßen auf der Veranda und tranken Tee. Meisel erzählte von seinem Entschluß, bestimmte Ungeheuerlichkeiten, die sich in diesem Land ereigneten, der Weltöffentlichkeit bekanntzugeben. Gefangene sollen in Lager verlegt werden, aber sie kommen nie an ihrem Bestimmungsort an. Ortschaften fände man, die Pontoks abgebrannt, am Himmel Geier. Die Hottentotten, die sich mit Cornelius und den Witbooi-Söhnen ergeben hätten, habe man auf eine kleine Felseninsel in der Lüderitzbucht gebracht, die sogenannte Haifischinsel. In dem kaltfeuchten Seeklima stürben Frauen und Kinder zu Hunderten. Dahinter stecke leider System. Sogar seine evangelischen Kollegen von der Rheinischen Mission, die sonst ja kaum noch wüßten, was Protestantentum heißt, hätten inzwischen mit Briefen und Eingaben beim Gouvernement und Reichskolonialamt gegen diese Behandlung protestiert. Hier ein Brief des Kollegen Laaf vom 5. Oktober aus Lüderitz: »Seit einigen Wochen sind fast sämtliche gefangenen Hottentotten hier, ca. tausendsiebenhundert Seelen. Da habe ich Arbeit in Hülle und Fülle, zumal ich mit den Heiden – die Zahl weiß ich noch nicht genau – Taufunterricht begonnen habe. Eine große Anzahl der Leute ist krank, meist an Skorbut, und es sterben wöchentlich fünfzehn bis zwanzig. Samuel Isaak, der Unterkapitän der Witbooi, der mein Dolmetscher ist, sagte mir unlängst, daß seit dem 4. März, an welchem Tag er sich den Deutschen gestellt hatte, fünfhundertsiebzehn von seinen Leuten gestorben seien. Heute ist die Zahl noch größer. Von den Herero sterben ebenso viele, so daß man im ganzen durchschnittlich wöchentlich fünfzig rechnen kann. Wann wird dieser Jammer ein Ende nehmen. Die Leute werden ganz gut versorgt, sowohl mit Kleidung als auch mit Proviant, letzteren können sie nicht alle essen. Aber das Klima ist zu ungünstig, und wenn die Regierung die Leute nicht verpflanzt, wird sie später eine große Not mit eingeborenen Arbeitern haben, die sich anderorten jetzt schon recht fühlbar macht. Schon aus diesem Grunde sollte eine Änderung getroffen werden, von rein humanen Rücksichten ganz zu schweigen.«
Meisel selbst sei noch einen Schritt weitergegangen und habe die Situation der Eingeborenen in Briefen geschildert, die er an sozialistische Zeitungen nach Deutschland, Schweden und in die Schweiz geschickt habe.
Man muß gegen diese Unmenschlichkeit etwas tun, sagte Meisel immer wieder. Gottschalk saß in dem knisternden Korbstuhl, die Stiefel auf einem Hocker, und sagte:
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