Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
aber eine von Angst abgekühlte Lust. Morgaine war wunderschön: Vanye wies diesen Gedanken immer wieder von sich – die
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standen ihm von Natur aus fern, und dieses Wesen erst recht. Doch als er sie nun in diesem Saal stehen sah, der helle Kopf eine strahlende Sonne in der Dunkelheit, die schlanke Gestalt elegant in
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die Drachenklinge mit der Anmut eines Wesens tragend, das auch damit umzugehen versteht – da überkam ihn eine seltsame Vision: wie im Fiebertraum sah er ein Nest der Korruption und eine geschmeidige Schlange inmitten von fliehenden niederen Wesen – böser als sie, gefährlicher als sie und unendlich schön – eine Schlange, die sich zwischen ihnen aufrichtete und mit hypnotischen Basiliskenaugen blickte, der Tod, der vom Tod träumte und dabei lächelte.
Erschaudernd tat er die Vision ab und sah, wie sie sich vor Kasedre verbeugte, und brachte dann selbst eine Huldigung zum Ausdruck, ohne in das verrücktverkniffene bleiche Gesicht zu blicken: dann zog er sich an seinen Platz zurück und untersuchte den angebotenen Wein sorgfältig und roch sogar daran.
Morgaine trank; er überlegte, ob ihre Künste sie vor Drogen und Giften schützen oder ihn retten konnten, der nun wirklich keinen Schutz davor hatte. Jedenfalls trank er zurückhaltend und zögerte lange zwischen den einzelnen Schlucken, wartete auf Anzeichen eines Schwindelgefühls: aber es tat sich nichts. Wenn man sie vergiften wollte, dann auf raffiniertere Weise.
Es wurden verschiedene Gerichte aufgetragen: sie griffen bei den einfachen Speisen zu und aßen langsam. Der Wein strömte endlos, doch sie tranken nur wenig; und endlich, endlich – Morgaine und Kasedre lächelten einander noch immer an – wurde das letzte Geschirr hinausgetragen und Helfer boten noch mehr Wein an.
»Lady Morgaine«, bat Kasedre, »du gabst uns ein Rätsel auf und versprachst uns für heute abend die Lösung.«
»Über die Zauberfeuer?«
Kasedre eilte um seinen Tisch, um sich neben ihr niederzulassen, und winkte energisch den nervösen, zerlumpt gekleideten Schriftgelehrten herbei, der schon den ganzen Abend an seinem Ellbogen lauerte. »Schreib, schreib!« sagte er zu dem Mann. In jeder Residenz, die etwas auf sich hielt, gab es einen Archivar, der die Unterlagen auf dem laufenden hielt und die Ereignisse detailliert festhielt.
»Oh, wie interessant euer Buch für mich wäre«, murmelte Morgaine, »wo ich doch einen so großen Sprung durch die Geschichte der Menschheit gemacht habe. Tu mir den Gefallen, mein Lord Kasedre – borge mir einmal kurz das Buch!«
Mitleid!
flehte Vanye in Gedanken.
Sollen wir hier noch länger sitzen?
Er hatte auf einen kurzen Abend gehofft und musterte das dicke Buch und die alkoholisierten Höflinge, die gelangweilt herumlagen und wie hungrige wilde Tiere aussahen. Nervös versuchte er zu schätzen, wie lange sie sich wohl noch beherrschen würden.
»Es wäre uns eine Ehre«, erwiderte Kasedre. Vermutlich geschah es nicht oft, daß jemand Interesse für den staubigen Band von Leth zeigte, der gefüllt sein mußte mit Berichten von Morden und Inzest. Jedenfalls liefen entsprechende Gerüchte um, denen allerdings sehr wenige konkrete Nachrichten aus Leth folgten.
»Hier«, sagte Morgaine und zog das modrige Buch des Schriftgelehrten in ihren Schoß, während der arme Schreiber – ein alkoholstinkender, heruntergekommener alter Mann – zu ihren Brokatknien Platz nahm und mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen zu ihr emporblickte. Seine Augen tränten, unter seiner Nase hing ein Tropfen. Beides versuchte er mit dem Ärmel zu beheben. Sie öffnete das Buch, wobei sie vom Schimmel zusammengeklebte Blätter trennen mußte, wendete ehrerbietig die alten Seiten, teilte sie mit dem Nagel, legte sie sorgfältig um, nach den gewünschten Jahren suchend.
Weiter hinten im Saal hatten einige weniger gelehrte Banketteilnehmer lautstarke Gespräche begonnen. Es hörte sich an, als wäre ein Glücksspiel im Gange. Morgaine kümmerte sich nicht darum; Kasedre aber schien irritiert zu sein. Lord Leth hockte sich persönlich neben ihr nieder und lauschte ehrfürchtig in ihr langes Schweigen, Ihr Zeigefinger zeichnete Worte nach. Vanye blickte über ihre Schulter und sah gelbes Pergament und Tinte, die rotbraun geworden und kaum noch zu lesen war. Erstaunlich, daß jemand, der die alte Sprache so wenig beherrschte wie sie, das Gekritzel entziffern konnte, doch ihre Lippen bewegten sich ohne Zögern.
»Mein guter
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