Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
du in Schwierigkeiten warst. Sonst hätte ich dich nicht so ohne weiteres zurückgelassen. Ich ahnte, daß da ein gewisses Einverständnis zwischen dir und Liell bestand: als du mir nicht folgtest, wagte ich nicht bei zwei Männern zu bleiben, die meine Feinde sein mochten.«
»Ich bin als Nhi aufgewachsen«, sagte er. »Wir begehen keinen Eidbruch. Wir begehen keinen Eidbruch,
liyo.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie, und dazu war ein
liyo
gegenüber seinem
ilin
nicht verpflichtet, so groß die Beleidigung auch sein mochte. »Ich habe das nicht richtig erfaßt.«
In diesem Augenblick scheuten die erschöpften Pferde mit hochgeworfenen Köpfen und geblähten Nüstern, und das Weiß der Augen zeigte sich im matten Licht. Ein Reptil glitt auf vier Beinen dahin, tänzelte schlangengleich in das dichte Unterholz. Ein großes Geschöpf mit kränklichbleicher Haut. Sie hörten es durch das Gebüsch laufen.
Vanye fluchte, sein Magen drohte zu revoltieren, seine Hände bemühten sich ohne Überlegung, die entsetzten Pferde zu beruhigen.
»Idiotie!« rief Morgaine leise. »Thiye hat keine Ahnung, was er anrichtet. Gibt es hier viele solcher Geschöpfe?«
»Die Wälder sind voller Ungeheuer, die auf ihn zurückgehen«, sagte Vanye. »Einige sind scheu und tun niemandem etwas. Andere sind schrecklich, geradezu unglaublich. Es heißt, die Koriswölfe seien künstlich erschaffen worden, die Tiere seien früher nicht so wild gewesen, nicht gefährlich für den Menschen – jedenfalls nicht vor…« Beinahe hätte er gesagt »vor Irien«, verzichtete aber aus Respekt vor ihr darauf. »Deshalb dürfen wir hier nicht schlafen. Diese Geschöpfe sind erschaffen und schwer zu töten.«
»Sie sind nicht geschaffen worden«, antwortete sie, »sondern hierhergebracht. Aber du hast recht – dies wäre kein guter Lagerplatz. Diese Ungeheuer – einige werden sterben wie Kleinkinder, die man vorzeitig an einem zu kalten oder zu warmen Ort aussetzt; viele werden harmlos bleiben, doch andere werden gedeihen und sich vermehren. Ivrel muß ein weites Terrain beeinflussen. Ach, Vanye, Thiye hat keine Ahnung! Er verliert so allerlei und weiß nicht einmal was. Oder er hat Spaß an dem Ödland, das er erzeugt.«
»Woher kommen denn solche Wesen?«
»Von Orten, wo sie zu Hause sind. Aus anderen Momenten des
Jetzt,
durch andere Tore, von Orten, wo das Ding da eben natürlich vorkommt und dem Auge nicht mißfällt. Kein einheimisches Tier dieser Gegend wird solche Angriffe überleben, wenn dem nicht Einhalt geboten wird. Nicht dem Menschen schaden solche Dinge, sondern der Natur. Bald wird ganz Andur-Kursh davon berührt sein. Komm, komm weiter.«
Doch sein Schlafbedürfnis war verflogen, und er behielt die Zügel. Er schloß die Augen, als Morgaine den Marsch fortsetzte, und sah immer wieder die bleiche Echsengestalt über den Weg huschen, groß wie ein Mensch. Sie war eine der Unsinnigkeiten von Koriswald, eher häßlich als gefährlich.
Es wurde von schlimmeren Dingen berichtet. Manchmal, so hieß es, lagen Kadaver in der Nähe von Irien, unmögliche Geschöpfe, Fehlleistungen der Kunst Thiyes – viele nahezu formlos und fluchbeladen, andere von solch fantastischer Gestalt, daß niemand sich vorstellen konnte, wie das lebendige Wesen ausgesehen hatte.
Sein einziger Trost an diesem Ort lag in dem Umstand, daß Morgaine ebenfalls entsetzt war; soviel menschliches Empfinden hatte sie zumindest. Dann fiel ihm ein, wie sie zu ihm gekommen war, von dem Ort, den sie
Datwischen
nannte;
an diese Küste geschwemmt,
so hatte sie sich ausgedrückt.
Er begann zu ahnen, wie sie war, auch wenn er es nicht in Worten ausdrücken konnte: Morgaine und die bleiche Schreckensgestalt hatten Andur-Kursh auf demselben Weg erreicht, nur ging ihr Hiersein nicht auf einen Zufall zurück, sie hatte vielmehr ein Ziel.
Sie hatte es auf die Tore abgesehen, auf Thiyes Macht.
Ihr ging es darum, alle Dinge an dieser Küste aus den Angeln zu heben. In die Position des Hjemur-Lords gerückt, war sie bestimmt nicht weniger gefährlich als er. Sie hatte, wenn seine Ängste zutrafen, nichts mit Andur-Kursh gemein, nicht einmal die Geburt, und schuldete dem Land nichts. Und
ihr
diente er.
Liell hatte behauptet, daß sie lüge. Einer der beiden log wirklich, soviel stand fest. Gequält fragte er sich, wie es weitergehen konnte, sollte er mit Gewißheit erfahren, daß Morgaine die Lügnerin war.
Wieder flatterte etwas durch die Dunkelheit – eine normale Eule
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